Short Story
Am Rande der Welt
von Ian St Martin

    Am Rande der Welt

    von Ian St Martin

    Zum Lesen scrollen

    Am Rande der Welt
    von Ian St Martin

    „Sieben Mal“, sagte Ysard Tomyri und gab sich alle Mühe, ihre Stimme ruhig und ihr Gesicht neutral zu halten.

    Kapitän Oditz antwortete seinem ersten Offizier nicht sofort. Seine Aufmerksamkeit galt den Karten und Berichten, die seinen Schreibtisch bedeckten … zumindest gab er dies vor. Oditz hatte sie zu sich gerufen und wie so vieles in ihrer kurzen, gemeinsamen Dienstzeit, war die Tatsache, dass er sie in seinem Quartier an Bord der Kironya strammstehen ließ, hauptsächlich eine Machtdemonstration.

    „Ich ersuche um eine Unterredung beim Oberkommando“, sagte Ysard, die dieses Mal nicht gewillt war, das Spiel des Kapitäns mitzuspielen.

    „Ich spreche hier für das Oberkommando, Kommandantin Tomyri“, sagte Oditz, ohne aufzusehen. „Eine Tatsache, derer Sie sich entweder nicht bewusst sind, oder die Sie einfach nicht akzeptieren wollen.“

    „Sieben Mal“, wiederholte Ysard. „Ich habe nicht um eine Unterredung gebeten, um zu betteln oder zu flehen, sondern, um ein Versprechen abzulegen.“

    „Ein Versprechen?“ Der Kapitän sah von seinen ausgebreiteten Pergamenten hoch und richtete seinen Blick endlich auf Ysard.

    „Ja“, antwortete sie. „Ich will ein Versprechen abgeben, dass ich ihnen nicht nur Ruhm bringen werde, sondern auch Länder und Leute durch Worte oder Blut für das Imperium gewinnen werde. Überall wird für Expansionen mobil gemacht, Gesandte werden täglich von unseren Grenzen ausgeschickt, um neue Länder für Noxus zu sichern. Ich kann diese für sie gewinnen. Ich brauche nur eins dafür – ein Kommando.“

    „Darüber haben wir doch bereits gesprochen“, murmelte Oditz. „Bisher sieben Mal, wie Sie wissen. Das Oberkommando entscheidet darüber, wie der Wille des Trifarix ausgelegt wird – nicht seine Untergebenen.“

    Ysard erstarrte. Frustration zerrte an ihren Nerven. „Als Kapitän Hurad den Piraten vor der Küste von Ruug zum Opfer fiel, war ich es, die die Kironya und ihre Besatzung zum Sieg führte, nicht Sie. Ich war es, die allen voran das Korsarenschiff enterte, um es zu kapern – und als der Letzte von ihnen fiel, wurde mein Name gejubelt. Es fühlte sich richtig an. Nach einem derartigen Sieg hatte ich erwartet …“

    „Was?“, fragte Oditz. „Ihr eigenes Kommando? Nachdem Sie einen Haufen unterernährter Freljorder wieder ins Meer geworfen hatten? Sie glauben, dass Sie hier an meiner Stelle sitzen sollten. Und weil das nicht so ist, haben Sie meine Autorität untergraben und höchstpersönlich um eine Unterredung beim Oberkommando ersucht.“

    Besonnen legte Kapitän Oditz seine Schreibfeder beiseite und erhob sich aus seinem Sessel. Er überragte Ysard deutlich. Das Licht fing sich in den alten Narben, die sein Gesicht nach einem Leben voller Kriege zeichneten. „Ich hätte Ihnen wegen mangelnden Respekts den Rang aberkannt und Sie in die Vergelterarena werfen lassen, Kommandantin Tomyri“, sagte er steif. „Aber wie es scheint, hat das Schicksal es gut mit Ihnen gemeint.“

    Er zog eine kleine Schriftrolle hervor und hielt sie ihr mit einer abrupten Bewegung unter die Nase.

    Das Siegel auf der Schriftrolle war gebrochen und ihr Inhalt bereits von Oditz oder seinen Assistenten gelesen, wie es ihr gutes Recht war.

    „Nehmen Sie sie. Und dann raus.“

    Nach kurzem, überraschtem Zögern streckte Ysard die Hand nach der Botschaft aus. Sie salutierte, eilte zurück in ihr Quartier, entrollte die Schriftrolle und überflog schnell den Inhalt.

    Es war, als ob jemand geschmolzenen Stahl aus einem Schmelzkessel direkt in ihr Herz goss, der sie wachrüttelte. Ysard spürte, wie der Wind der Vorsehung das erste Mal von achtern blies. Endlich würden sich ihre Fähigkeiten vollends entfalten können.

    Man hatte sie in die Hauptstadt beordert. Endlich würde man ihr ein Kommando übertragen.




    Der ganze Hafen war ein einziges geschäftiges, lautstarkes Treiben. Kaufleute, Händler und Hafenarbeiter drängten sich entlang des steten Stroms aus Flottenbesatzungen, die an Land oder an Bord ihrer Schiffe gingen. Seltene Tiere stießen klägliches Geheul in ihren eisernen Käfigen aus. Sie würden für Wettkämpfe in die Arenen oder die Wohnsitze der Oberschicht gebracht werden, um deren exotische Sammlungen zu vergrößern. Ganze Schiffsladungen Nahrungsmittel aus allen Ecken Runeterras wurden aus Handelsschiffen entladen und verteilt, um die zahllosen Bürger in Ysards kargem Heimatland zu versorgen. Es war ein atemberaubender Anblick: eine Flussmündung voller Leben, aus der neue Waren, Kulturen und Ideen in das Reich strömen, es erweiterten, bereicherten und stärkten.

    All das – und die weitläufige Stadt dahinter – lag im Schatten der Unsterblichen Bastion. Ysard erhaschte von einer Hafenstraße her einen Blick auf die Pracht des uralten Gebäudes – seine unermesslich hohen Mauern und die mit den Bannern des Reichs geschmückten Türme. Es gab keine bessere Verkörperung der Macht von Noxus – derselben Macht, die in ihrem Herzen wogte.

    Ysard nahm sich ein paar Minuten, um die pulsierende Szene um sie herum in sich aufzunehmen, bevor ihr Gesicht einen abweisenden Ausdruck annahm und der scharfe Verstand eines Kommandanten ihre Gedanken lenkte.

    Eine große Expedition wartete auf sie und sie eilte zur Anlegestelle ihres Schiffs.

    Die Ardentius wirkte auf Ysard wie ein Schiff, das aus einer früheren Zeit angespült worden war – und es hatte die dazu passenden Narben aufzuweisen. Wunden, die sich in jahrzehntelangem Dienst angesammelt hatten, übersäten ihren Rumpf wie Pockennarben und erstreckten sich wie ein Spinnennetz von ihrem eisernen Bugspriet bis zum knarrenden Holz ihres Heckkastells. Diese kleineren Fregatten dienten als Begleitschiffe für größere Kriegsschiffe wie die Kironya. Sie waren dazu gedacht, sich an den feindlichen Vorpostenschiffen aufzureiben und feindliches Feuer abzufangen. Ihr Nutzen wurde bis zum Letzten ausgeschöpft, bevor man sie aufgab oder sinkend zurückließ. In Ysards Augen schien die Ardentius einem dieser Schicksale geweiht.

    Die Besatzung an Deck war kaum besser. Eine bunt zusammengewürfelte Truppe schmutziger Männer und Frauen schuftete gemeinsam. Das ungeordnete Gesindel verbrachte mehr Zeit damit, sich Beleidigungen und Drohungen an den Kopf zu werfen, als damit, Vorräte oder Ladung an Bord zu bringen. Sie zählte kaum mehr als sechzig, das lag nur knapp über der Mindestbesatzung. Ysard verzog angewidert das Gesicht.

    Dann verbannte sie mit aller Macht den Hohn aus ihren Zügen. Man hatte ihr zwar nur minderwertige Mittel zur Verfügung gestellt, aber das spielte keine Rolle. Die Eroberungen, die sie damit errang, würden nur umso mehr ins Gewicht fallen.

    „Sie da“, rief sie einem Aufseher zu, der sich daraufhin von der Mannschaft abwandte, die er herumkommandierte. Er drehte sich um, zog den Kragen seines abgewetzten Allwettermantels aus Leder gerade und näherte sich ihr mit einem lässigen, selbstsicheren Grinsen, das Ysard verärgerte.

    „Sorgen Sie dafür, dass die Ladung und die Mannschaft umgehend zum Ablegen bereit sind“, sagte Ysard knapp. „Ich beabsichtige, mit meinem Schiff ohne weitere Verzögerung die Segel zu setzen.“

    Ihr Schiff?“ Der Mann sprach mit rauem Bariton. Er runzelte kurz die Stirn, bevor es ihm dämmerte. „Ah, Sie sind also dieses noxianische Wunderkind, das man mir aufgehalst hat. Sie können Ihr Schiff führen, wie Sie wollen, und wenn Sie aufhören zu quengeln, werden wir ablegen können, sobald ich den Rest meiner Sachen zusammenhabe.“

    „Was fällt Ihnen ein“, Ysard wurde wegen seiner Unverschämtheit puterrot und ihre Hand schloss sich um den Griff des verzierten Schwerts an ihrer Seite. „Sagen Sie mir Ihren Namen.“

    „Ordylon“, entgegnete der Mann, offenbar ungerührt. „Freunde nennen mich allerdings Niander.“

    „Niander Ordylon“, wiederholte Ysard den Namen. Sie musterte die schweren Kisten, mit denen die Ardentius beladen wurde. Darauf stand, dass sie Gurtzeug, Bolanetze und Käfiggehäuse enthielten. „Der Bestienmeister?“

    „Ah, Sie haben also von mir gehört.“

    Es gab nur wenige in der Hauptstadt, die nicht von ihm gehört hatten. Ysard hatte zwar verschwindend wenig Zeit in den Arenen verbracht – schließlich gab es ein Imperium, für das sie kämpfen musste – und dennoch wusste sie, dass der Name Ordylon für die dramatischen Vorstellungen mit tödlichen Kreaturen stand, die unter dem Gebrüll der Zuschauer gegeneinander kämpften.

    Was machte er hier?

    Ysard fand ihre Fassung wieder. „In meinem Marschbefehl stand nichts davon, dass Sie an Bord kommen würden.“

    „Und doch bin ich hier.“ Er übergab Ysard eine Schriftrolle mit dem Siegel von Kapitän Oditz. Ordylon bemerkte ihren finsteren Blick und ließ ein verschwörerisches Grinsen aufblitzen. „Anscheinend sind wir jetzt Schiffskameraden.“




    Ysard stand am Bug ihrer Fregatte und ließ ihren Blick über den Horizont schweifen. Nachdem sie die Segel gesetzt hatten, reihten sie sich unter weiteren Schiffen ein, die über die Flussmündung hinaus aufs offene Meer segeln wollten. Nach stundenlangem Warten mussten sie eine rüde und gründliche Untersuchung von den Soldaten über sich ergehen lassen, die auf den befestigten Anlagen die Einreise vom Meer nach Noxus überwachten. Nachdem sie jeden Winkel der Ardenius durchsucht und Ysards Marschbefehl nicht weniger als sechs Mal gründlich studiert hatten, erteilte man ihr die Freigabe zum Verlassen des Hafens.

    Ysard hatte das Meer viele Male gesehen, aber niemals an Bord eines Schiffs unter ihrem Kommando. Für sie war es immer gleichermaßen schockierend und wunderschön: eine grenzenlose, tiefblaue Ebene, die nur durch ein dünnes Flimmern – verursacht von der Hitze der Mittagssonne – vom Himmel getrennt wurde.

    Und jetzt wartete irgendwo da draußen Ysards Schicksal auf sie. Ein neues Land, das es zu erkunden und erobern galt, um es dann in das noxianische Imperium einzugliedern.

    Sie war auf den Geschmack des Ruhms gekommen, den ihr die Schwertklinge eingetragen hatte, aber das war kaum eine Heldentat, die in der Ewigkeit widerhallen würde. Und so sehr sie auch versuchte, es zu verdrängen, Ysard trug doch immer noch einen Hauch des scheuen Straßenkinds in sich, das nie wirklich einen Platz in der Gemeinschaft gefunden oder jemand anders als sich selbst vertraut hatte.

    Ehe das nicht geschehen war, würde Ysard keine Ruhe finden.

    Sie warf einen Blick über ihre Schulter, als sich schwere Schritte über das Deck näherten. Sie sah den Biestmeister, der auf sie zukam und machte eine letzte schnelle Notiz in ihrem ledergebundenen Tagebuch, bevor sie es zuklappte und in eine ihrer Manteltaschen steckte.

    „Toller Anblick, was?“, sagte Ordylon und stützte sich mit den Fingerknochen auf die Reling.

    Ysard reagierte gereizt. „Warum sind Sie hier?“

    „Ich brauchte ein Schiff.“

    „Das ist mein Schiff“, erwiderte Ysard. „Und meine Expedition. Solange Sie das nicht vergessen, werden wir gut miteinander auskommen.“

    Ordylon zuckte mit den Schultern. „Sie können so viel Soldat spielen, wie Sie wollen. Für mich ist das einzig Wichtige, dass wir unversehrt das Ziel erreichen und Sie mir nicht in die Quere kommen, während ich das finde, wonach ich suche.“

    Ysard wandte sich ihm zu. „Und das wäre?“

    „Ein Monster, meine Liebe.“ Er lächelte. „Ein spektakuläres Monster. Etwas, das mich unsterblich machen wird.“




    Nach drei Wochen auf offener See erreichten sie endlich die Ausläufer des Schlangenfluss-Deltas. Dutzende Landmassen waren in dem Gebiet verstreut: von winzigen Sandbänken mit Gestrüpp, auf denen man nicht einmal stehen konnte, bis hin zu Inseln, die groß genug waren, um Dörfer darauf zu bauen. Der Archipel war der Zugang zum südlichen Kontinent Shurima und die unerforschten Regionen lagen an dessen östlichen Ausläufern.

    Die Wasserwege waren voller kleiner Boote und Flöße, auf denen Fischer und einheimische Kaufmannsleute Tauschhandel treiben wollten. Die Ankunft eines noxianischen Schiffs – auch die eines Begleitschiffs wie die Ardentius – war ein außergewöhnliches Ereignis und sorgte für ziemlichen Aufruhr. Nur wenige Menschen, die entlang der Flüsse des Archipels lebten, würden sich eine derartige Chance auf einen Tauschhandel entgehen lassen.

    Ysard marschierte von ihrer Kabine auf das Hauptdeck und fand ihr Schiff umringt von Einheimischen. Männer und Frauen standen in ihren schaukelnden Booten und versuchten, mit Fischbündeln und einer Unzahl verschiedener Schmuckstücke am Rumpf emporzuklettern, um die Marinesoldaten und die Mannschaft, die über die Reling hinunterspähten, in Versuchung zu führen. Ordylon war mitten unter ihnen und plauderte in ihrer Muttersprache, während seine Fallensteller Tauschhandel trieben und ihre Karten mit den Kenntnissen der Einheimischen verglichen.

    „Dafür haben wir keine Zeit“, sagte Ysard. Ganz kurz war sie versucht, die Kanonen des Schiffs auf die Boote und Sampans zu richten, die ihnen den Weg versperrten, aber sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Es wäre nur eine unnötige Verschwendung der ohnehin knappen Expeditionsressourcen und die Einheimischen waren für sie von größerem Wert, wenn sie lebten.

    „Entspannen Sie sich“, rief Ordylon zu ihr hinauf und musterte ein kunstvoll geschnitztes Holzstück, bevor er es dem enttäuschten Händler wieder zuwarf. „Die Gewässer werden im weiteren Verlauf gefährlich. Also schicken Sie nicht so leichtfertig ein freundliches Gesicht fort.“

    Ysard gab nicht nach. „Wir nehmen Vorräte, frisches Wasser und einen Lotsen an Bord. Niemand geht an Land.“

    Ordylon salutierte irritierend ernsthaft und führte seine Unterhaltung mit den Einheimischen fort. Ysard verdrängte den Biestmeister aus ihren Gedanken, wandte sich dem Aufgebot aus noxianischen Marinesoldaten an Bord des Schiffs zu und sorgte dafür, dass diese an verschiedenen Punkten überall auf dem Schiff Wache hielten. Nachdem sie die Inspektion der Schiffskanonen und ihrer Kanoniere beendet hatte, sah sie, wie Ordylon einen Mann von einem Sampan aufs Deck hochhievte.

    „Hab ’nen Lotsen für uns gefunden“, sagte Ordylon und beugte sich vor, als der Mann in seiner heimischen Mundart mit ihm sprach. „Er sagt, willkommen am Schlangenfluss, und dass er uns den Fluss hinaufbringen kann.“

    „Gut“, sagte Ysard schnell, die darauf bedacht war, schnell weiterzukommen.

    Der Lotse sprach wieder mit Ordylon. „Aber er fragt, warum wir den Fluss hinaufsegeln wollen“, sagte der Meisterfallensteller. „Was suchen Sie dort?“

    „Sagen Sie ihm“, entgegnete Ysard, „dass es, wenn wir erst fertig sind, zu Noxus gehören wird.“




    Nachdem sie ihren Proviant mit einem merkwürdigen Sortiment aus einheimischen Früchten und gedörrtem Fisch aufgestockt hatten, segelte die Expedition an dem schwimmenden Handelsposten vorbei. Der Archipel schrumpfte zusammen und die labyrinthartigen Wasserwege zwischen den Inseln wurden immer kleiner, bis der Ardentius nur noch ein breiter, dunkler Fluss als Reiseroute blieb, der immer tiefer in den Dschungel führte.

    Tage verstrichen ereignislos, während sie sich wahrer, unberührter Wildnis gegenübersahen. Ysards Herz schwoll vor Stolz bei dem Gedanken, dass sie und ihre Mannschaft die ersten Noxianer überhaupt waren, die diese ungezähmte Wildnis zu Gesicht bekamen. Sie war voller Schönheit, voller üppiger Pflanzen, die sich an kräftigen, hohen, in grellbunte Blüten gehüllten Bäumen emporrankten.

    Außerdem gab es hier noch etwas anders.

    Während ihr Flusslotse sie widerstrebend immer tiefer führte, ihnen Orientierungspunkte zeigte und das Schiff von Untiefen und Riffen fernhielt, spürte Ysard ein Jucken – zunächst kaum wahrnehmbar, doch dann immer beharrlicher und deutlicher. Eine Düsternis durchdrang jeden Zentimeter um den Fluss herum, als ob alles in einem Schatten versank, der nicht sichtbar, sondern nur spürbar war.

    Ysard ertappte sich immer wieder dabei, dass ihre Hand unwillkürlich zu der Klinge an ihrer Hüfte wanderte. Sie zog ihre Hand zurück, verschränkte dann nachdrücklich die Arme vor der Brust und zwang sich dazu, ihre Gedanken zu fokussieren.

    Doch das stumme Entsetzen blieb und durchdrang alles vor ihren Augen.




    Ysard achtete darauf, dass ihre Befehle weiterhin scharf klangen. Sie beriet sich mit dem Navigator des Schiffs, der an einer Karte des Flusslaufs arbeitete, und inspizierte danach die Lagerräume des Schiffs. Sie kletterte wieder hinauf aufs Hauptdeck und fischte einen Rattenrüsselkäfer aus ihrer Ration Blutklippen-Zwieback, als sie Geschrei vernahm.

    „Was ist los?“, verlangte sie zu wissen, während sie das Deck erklomm.

    Ordylon hörte dem Lotsen zu. „Er sagt, er will nicht weiter mitkommen.“

    Ysard runzelte die Stirn. „Warum hier?“ Sie sah sich um. Der Fluss und der Dschungel waren hier auch nicht anders als im Verlauf der letzten Tage. Doch der Flussmensch war in heller Panik, als ob sie eine unsichtbare Grenze durchbrochen hätten, die man niemals hätte überschreiten dürfen.

    Der kleine Mann zeigte hektisch auf die Mannschaft um ihn herum. Er wies auf die roten, nässenden Hautstellen auf ihren Körpern. Ysard hatte bemerkt, dass sich dieses Leiden unter der Mannschaft ausbreitete, trotz ihrer Versuche, die Ursache herauszufinden. Sie fand sogar Anzeichen dafür bei sich selbst.

    „Das ist der Dschungel“, übersetzte Ordylon den Wortschwall des Lotsen. „Er sagt, dieser würde uns bestrafen. Er wolle uns nicht hereinlassen.“

    Kleiner Feigling, dachte Ysard.

    Sie sah Ordylon an. „So sei es. Sehen Sie zu, dass er mein Schiff verlässt. Wenn es sein muss, werfen Sie ihn über Bord. Wir werden jetzt nicht umkehren.“




    Die Ardentius segelte weiter und befand sich inzwischen über eine Wochenreise im Inland. In den letzten Tagen hatte kein Wind die Segel aufgebläht, nicht einmal eine schwache Brise hatte sie vorwärts getragen. Auf Ysards Befehl hin waren Mannschaftsgruppen von Bord gegangen und wateten durch das Wasser, das ihnen bis zur Schulter reichte, um die Fregatte mit Seilen und schweren Ketten mühsam voranzuziehen. Die Anstrengung war enorm und die tückischen, wandernden Sandbänke des Flusses sorgten dafür, dass die Mannschaft, nachdem sie die Strömung gefunden hatte, mit neun Seelen weniger den Weg fortsetzen musste.

    Nebel hüllte den Fluss ein und verbarg ihn vor ihren Blicken. Der urwüchsige Waldrand rückte immer näher und ließ seine Äste übers Wasser hängen, um die gegenüberliegenden Ufer durch ein immer dichter werdendes Blätterdach miteinander zu verbinden. Bald drang kein noch so kleiner Lichtstrahl mehr zu ihnen durch. Ysard hatte das eindeutige Gefühl, dass sich das Schiff abwärts bewegte – und nicht vorwärts in das dunkle Herz dieses unerforschten Lands.

    Der Dschungel verschlang sie.

    Regen hatte ohne Vorwarnung eingesetzt und hielt tagelang an. Irgendwie durchdrang er das Blätterdach des Dschungels und durchnässte die Ardentius und ihre Mannschaft bis auf die Knochen. Es war, als ob dieser Ort alles daransetzte, sie aus der Fassung zu bringen und die Eindringlinge dafür zu bestrafen, ihren Fuß auf sein Herrschaftsgebiet zu setzen. Die Mannschaft glaubte es wenigstens.

    Die Trennung von ihrem Flusslotsen hing bedrückend über der Besatzung wie eine schwere Sturmwolke. Die abergläubischsten unter ihnen murmelten vor sich hin und entdeckten düstere Vorzeichen in jedem Baum und den Formen jeder Welle, die vom Rumpf der Fregatte aus über das dunkle Wasser des Flusses lief. Sogar die zynischsten Marinesoldaten waren angespannt und konnten dieses Geschwätz nur eine gewisse Zeit ertragen, bevor sie selbst ebenfalls anfingen, irgendwelche Muster zu entdecken.

    Tief im Inneren wusste Ysard, dass es nicht lange dauern würde, bis einige von ihnen unter der Spannung einknickten – und dann würde ein Exempel statuiert werden müssen. Sie sollte recht behalten und zwar früher, als sie gedacht und gehofft hatte.

    „Beidrehen!“, erscholl ein panischer Ruf. „Sofort!“

    „Ganz ruhig, Kross“, sagte Ordylon und bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen.

    „Das hier ist ein Todesschiff. Ein verfluchtes Schiff.“ Der Fallensteller stürmte auf Ordylon los und packte ihm am Revers seines Wettermantels. „Ihr habt den Flussmenschen doch gehört – nichts kehrt je aus diesem Dschungel zurück. Nichts!“

    Ordylons Blick zuckte über die versammelte Mannschaft. Dicke Tropfen aus kondensierter Feuchtigkeit fielen von der breiten Krempe seines Huts. Er sah in ihren Augen, dass Kross’ Worte bei jedem einzelnen ins Schwarze trafen.

    „Genug davon“, schnauzte er und schob Kross von sich. „Wir dulden hier kein Gerede über Flüche. Reiß dich zusammen.“

    „Wir müssen umkehren“, bettelte der durchgedrehte Fallensteller. In seinen Augen schimmerte der Wahnsinn, während er sein Flehen immer wieder wiederholte. „Wir müssen …“

    Kross beendete seinen Satz nicht mehr. Er keuchte schwer, als eine Schwertspitze zwischen seinen Rippen hervortrat. Dann brach er auf dem Deck zusammen.

    Ysard säuberte ihre Schwertklinge. Manchmal war es eine schwere Bürde, recht zu haben.

    „Ich habe länger mit diesem Mann an meiner Seite gejagt, als Sie leben“, knurrte Ordylon. „Was gibt Ihnen das Recht …“

    „Wir werden nicht anhalten“, sagte Ysard kalt. „Für nichts und niemanden.“




    Knirschend kam das Schiff zum Stehen und warf Ysard aus ihrer Koje. Sie sprang auf, schnallte sich ihre Waffen um und spurtete auf das Deck hinaus.

    Das Ende des Flusses war plötzlich gekommen. Die Einmündung sah so aus, als ob verschlungene Ranken und glitschige Bäume das Wasser aufgesogen hätten. Rinnsale tröpfelten fächerförmig aus dem Dschungel oder sickerten aus dem schlammigen Boden heraus.

    „Der Fluss ist hier abgewürgt“, sagte Ordylon und zeigte auf die Baumwand, die vor dem Schiff stand. „Wir müssen umkehren. Einen anderen Flussarm finden.“

    Ysard hob ihr Fernrohr und suchte die Gegend vor ihnen ab. Die Ardentius umzudrehen, um eine andere Route zu finden, würde Zeit kosten, die sie nicht hatte. Ysard musterte die versammelten Soldaten und führenden Mannschaftsmitglieder und bezweifelte, dass die müden und aufgewühlten Überlebenden in der Lage sein würden, das Schiff auf diese Weise zu bewegen.

    In den letzten Tagen waren zehn Mann gestorben – einer war hingerichtet worden, weil er sich weigerte, auf seinen Posten zu gehen, und weitere sechs waren von der merkwürdigen, ansteckenden Krankheit dahingerafft worden, die sie befallen hatte. Drei waren einfach mitten in der Nacht verschwunden. Diejenigen, die sie nach ihrer Schicht ablösen sollten, fanden bei ihrer Ankunft keine Spur von ihnen.

    „Wir lassen eine Notbesatzung an Bord und schlagen von hier aus zu“, sagte Ysard zu den versammelten Offizieren. „Entweder finden wir etwas, das es wert ist, für das Imperium beansprucht zu werden, oder wir können einen Außenposten errichten, von dem aus weitere Expeditionen ins Hinterland möglich sind. Waffenmeister Starm, verteilen Sie Schwerter an den Landungstrupp.“

    Starm zögerte. „Kommandantin … keine Armbrüste? Keine Schwarzpulverbomben?“

    Ysard zog ihr Schwert und sprach zur versammelten Gruppe. „Derartige Waffen werden im Unterholz nutzlos sein. Wir machen das auf die altbewährte Art.“ Sie warf Ordylon einen Blick zu, der seine Jagdgruppe um sich versammelt hatte. „Das ist es doch, wofür Sie hergekommen sind, nicht wahr, Biestmeister?“

    Der Meisterfallensteller war trotz der Tortur der Flusspassage irgendwie immer noch genauso selbstsicher und leidenschaftlich wie zuvor. „Wir sind hinter einem Riesending her, Jungs“, sagte er. „Nehmt alles mit, das wir brauchen, um es einzufangen und das Gewicht auf uns alle zu verteilen. Und seid bereit, aufzubrechen, sobald die Jungs der Kommandantin von Bord gehen. Wir halten uns an sie.“

    Seine Leute zerstreuten sich und Ysard trat auf Ordylon zu. „Ich bin überrascht, dass wir ausnahmsweise einmal einer Meinung sind.“




    Der Dschungel war brutal. Ein anderes Wort fiel Ysard nicht ein. Der Fluss hatte ihnen zwar einiges abverlangt, war im Vergleich hierzu aber geradezu paradiesisch gewesen.

    Sie mussten auf die solide Masse aus Ranken und dichter Vegetation einhacken und sie durchschneiden, um sich den Weg freizukämpfen. Es gab keine Luft zum Atmen – nur dicken, schwülen Nebel, der in der Kehle und den Augen brannte. Es dauerte nicht lange, bis sie vollkommen erschöpft waren.

    Ysard hatte das schreckliche Gefühl, von überall und nirgends gleichzeitig beobachtet zu werden, und dann begannen ihre Männer einer nach dem anderen aus der Nachhut und von den Flanken zu verschwinden. Die meisten lösten sich geräuschlos in Luft auf, doch einige wurden von einem Brüllen begleitet ins Unterholz gezerrt und schrien um Hilfe.

    Innerhalb weniger Stunden war Ysards Streitmacht aus dreißig Marinesoldaten und Fallenstellern halbiert.

    „Zusammenbleiben!“, rief sie und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Ihre Gedanken schwirrten wild in ihrem Kopf herum und ihre Haut brannte von den roten Flecken, die nun ihren Oberkörper und ihre Gliedmaße bedeckten. Sie konnte jetzt nicht aufhören. Sie würde jetzt nicht aufhören. Sie mussten weitergehen.

    Ein Ruf vom vorausgeeilten Späher ertönte und Ysard stapfte zur Spitze der Kolonne. Vor ihnen befand sich eine kleine Lücke im Dschungel, in deren Mitte sich eine seichte Pfütze aus schwarzem, hochquellenden Wasser befand. Es war beengt, aber im Gegensatz zu ihrer bisherigen Wanderung gesegnet offen.

    „Finger weg von dem Wasser“, befahl Ysard, obwohl sie durstig war. „Wir rasten jetzt erst einmal. Aber bleibt abmarschbereit.“

    Ysard setzte sich hin und sah hoch zu Ordylon, der ihr eine verbeulte Feldflasche aus Blech entgegenstreckte. Nach einer Weile nahm sie diese widerwillig entgegen und er ließ sich neben ihr zu Boden sinken. Ysard warf ihm einen Blick zu und bemerkte, dass seine Selbstsicherheit, die er während der ganzen Reise behalten hatte, allmählich zu bröckeln begann.

    „Werden Sie nicht allzu rührselig“, sagte der Fallensteller. „Ich wäre mit oder ohne Sie an diesem verfluchten Ort. Ich habe keine andere Wahl.“

    Ysard sah ihn stirnrunzelnd an. Ordylon sah sich um, weil er sicher sein wollte, dass seine Leute außer Hörweite waren. Dann beugte er sich zu ihr hinüber.

    „Mein Geschäft ist bankrott“, flüsterte er. „Das wenige Geld, das ich noch hatte, habe ich für die Reise hierher ausgegeben. Es ist die letzte Chance, meinen Namen zu retten. Entweder bringe ich eine Bestie zurück, die die Arenen füllt und meine Schulden bezahlt, oder ich brauche gar nicht erst zurückzukehren.“

    Ordylon seufzte, nahm die Feldflasche zurück und trank einen kleinen Schluck.

    „Also. Was hat Sie hergeführt?“

    „Die Pflicht“, erwiderte Ysard und blickte in den Dschungel. „Wenn ich von hier zurückkehre und diesen Ort Noxus einverleibt habe, werden sie ihn nach mir benennen. Der edle Name von Tomyri hatte einmal Bedeutung … vor Großgeneral Swain und seinen Säuberungen. Meine Eroberungen werden durch die Ewigkeit hallen, ein Vermächtnis für alle Zeiten.“

    „Man hat schon gesagt, Sie wären eitel“, kicherte Ordylon. „Ich schätze, die Vorbereitung auf dieses sinnlose Unterfangen hat den Leuten den Rest gegeben. Ich verstehe jetzt, was sie meinten“, sagte er mit eigenartiger Milde. „Und das tut mir leid.“

    „Moment mal.“ Ysard runzelte die Stirn, während sie versuchte, den Sinn seiner Worte zu begreifen, doch dann unterbrach das Geräusch von plätscherndem Wasser ihre Ruhepause. „Ich sagte, Finger weg!“, versetzte sie.

    „Das sind wir nicht“, sagte Ordylon und spähte in den Dschungel.

    Ysard betrachtete die Pfütze und sah in der Spiegelung, wie die Bäume zitterten. Äste brachen ab und krachten zu Boden und ins Wasser.

    Dann hörte sie es.

    Ein schweres Stampfen, begleitet von dem Geräusch brechender Bäume, und ein tiefes, gurgelndes Grollen. Eine Gestalt löste sich aus dem Dschungel und schob sich durch die dichte Vegetation. Dann hob sich ein gewaltiger, mit Fangzähnen bewehrter Kopf.

    Ysard erstarrte. Sie hatte Basilisken schon gesehen – als Reit- oder Lasttiere. Sie hatte ausgewachsene Basilisken gesehen, die so groß waren, dass sie Mauern belagerter Städte einschlagen konnten.

    Dieser war noch größer.

    Die Kreatur starrte auf sie hinunter und stieß ein Gebrüll aus, das alle zu Boden gehen ließ.

    „Ja!“

    Die triumphierende Stimme riss Ysard aus ihrem Entsetzen. Sie drehte sich um und sah, wie der Biestmeister eine Harpune und eine Bola zusammensetzte und das Monster angrinste.

    „Na komm schon, du hübsches Ding!“, donnerte Ordylon. Wahnsinn hielt Einzug in seine Stimme, während er das Handwerkzeug seines Berufs schwenkte. „Dann sehen wir mal, wer größer ist, du oder ich!“

    Ysard spürte, wie der Boden unter ihren Füßen bei jedem Schritt des Monsters so stark bebte, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Sie hörte das urtümliche Gebrüll des Basilisken und die Schreie der Männer, die sich mit denen des berühmten Biestmeisters mischten.

    Aber sie sah nicht zurück, um herauszufinden, was mit ihm geschehen war. Sie war zu sehr damit beschäftigt, in die entgegengesetzte Richtung zu rennen.




    Ysard kam schließlich schlitternd am Rand einer Lichtung im Dschungel zum Stehen, stützte sich mit einer Hand an einem Baum ab und versuchte, zu Atem zu kommen. Sie hörte keinen Tumult von Ordylon und dem Basilisken mehr, aber sie konnte sich vorstellen, was schlussendlich passiert war. Nachdem sie einige Male tief durchgeatmet hatte, sah sie hoch und machte eine Bestandsaufnahme von dem, was von ihrem Kommando noch übrig war.

    Sie waren zu sechst, einschließlich ihr selbst. Sie sahen mitgenommen, erschöpft und verängstigt aus und nur drei von ihnen trugen noch Waffen. Ordylons Fallensteller waren bis zum bitteren Ende an seiner Seite geblieben. Verzweiflung traf Ysard wie ein körperlicher Schlag und sie musste kämpfen, um nicht auf die Knie zu sinken.

    „Sehen Sie!“, rief einer der Soldaten und zeigte mit seinem Schwert. Ysard spähte hinaus auf die Lichtung – und sah es. Eine Wölbung, die von Ranken überwuchert war und in dieser Umgebung vollkommen deplatziert wirkte.

    Sie bestand aus Stein. Ein Bauwerk. Sie eilten darauf zu. Kriechpflanzen und Dornengestrüpp knackten, als sie durch die Lücke im Unterholz brachen.

    Das Bauwerk war primitiv, eine schmucklose Konstruktion, die vollkommen vom Dschungel vereinnahmt worden war. Dicke Ranken wandten sich durch die bröckelnden Steine, als ob sie das Einzige wären, das dieses Gebäude aufrecht stehen ließ. Es wirkte unnatürlich zugewachsen, als ob dieser Ort aktiv versuchte, es zu vereinnahmen und zu Staub zerfallen zu lassen.

    Die Überlebenden teilten sich auf und suchten in und außerhalb des von Pflanzen erstickten Steinwürfels alles ab. Ysard blieb davor stehen und ein Gefühl, das sie nicht beschreiben konnte, schnürte ihr die Kehle zu. Sie riss das Rankengeflecht, das die Oberfläche bedeckte, zur Seite und sah die Schriftzeichen, die in den Stein gemeißelt worden waren – in einer Sprache, die sie ihr ganzes Leben lang schon kannte.

    „Dies …“ Ihre Zunge schwoll an und wurde trocken, während sie sich mühte, die Worte auszusprechen. „Das … das ist ein Noxtoraa.“

    Ysard wurde übermannt von plötzlicher Erkenntnis, die ihr ein flaues Gefühl bereitete. Sie waren nicht die Ersten des Imperiums, die hierherkamen. Es hatte andere gegeben, und wenn man ihre eigene Reise und den Zustand dieses Außenpostens in Betracht zog, gab es keinen Zweifel an ihrem Schicksal. Genau wie an ihrem.

    Sie war hierhergeschickt worden, um zu sterben.

    Man hatte ihr ein Kommando übertragen, das sie so verzweifelt ausführen wollte, und das sie an den Rand der Welt führte … an einen Ort, von dem noch niemand zurückgekehrt war. Ysard hatte jede Faser ihres Seins eingesetzt, um ein Vermächtnis zu erschaffen.

    Stattdessen stand sie in dieser erdrückenden Wildnis nun am Rande des Abgrunds, der den Namen Tomyri vom Angesicht der Geschichte auslöschen würde.




    Es gab nichts für sie in diesem verlassenen Außenposten. Ysard führte die anderen Überlebenden zurück in den Dschungel und schlug einen neuen Pfad in das dichte Unterholz. In ihren fiebrigen Gedanken schien es, als ob frische Wurzeln und Kriechpflanzen sich unmittelbar, nachdem sie weitergegangen waren, wieder zurückschlängelten.

    Schließlich fanden sie die Ardentius, wenn auch eher wie durch Zufall. Sie rannten mehr oder weniger gegen ihren Bug.

    Die Vegetation hatte die Fregatte verschlungen und sogar die Bucht um sie herum gefüllt. Es schien beinahe, als wäre das Schiff irgendwie aus dem Dschungel hervorgewachsen. Ysard sah Formen, die auf dem Deck wie kaputte Säulen aufragten.

    Ihr gefror das Blut in den Adern.

    Die Besatzung. Sie waren genauso verschlungen und überwuchert worden wie das Schiff. Alle Männer und Frauen standen aufrecht wie mit Ranken bedeckte Statuen.

    „Der Dschungel“, stammelte sie. „Er hat sie sich genommen.“

    Panik ergriff die verbliebenen Soldaten. „Was sollen wir tun?“, rief Waffenmeister Starm. „Was sollen wir tun?“

    „Wir machen uns auf den Weg zum Fluss“, murmelte Ysard. „Suchen einen Weg zum Ufer. Dann folgen wir ihm zurück zum Delta.“

    „Wir werden hier unmöglich zu Fuß rauskommen. Sie haben doch gesehen, was mit den anderen passiert ist, Kommandantin. Der Dschungel …“

    „Ich pfeife auf den Dschungel!“, schnauzte sie. „Er besteht aus Bäumen und Ranken, Insekten und Tieren. Sie sind ein Soldat von Noxus. Hier gibt es nichts, das Sie besiegen könnte.“

    Ysard war sich nicht sicher, ob sie selbst an ihre Worte glaubte. Irgendetwas war anders an diesem Ort. Hier existierte eine dunkle, unmögliche Präsenz; etwas, das selbst die Macht des Imperiums nicht zähmen konnte.

    Doch sie würde nicht der Verzweiflung erliegen.

    „Wenn ihr hier sterben wollt, einsam und vergessen, dann bitte.“ Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen. „Ich werde ein solches Schicksal nicht akzeptieren. Jeder, der die Kraft hat, mir zu folgen, kommt mit. Dieser Ort wird nicht das Ende von Ysard Tomyri sein.“




    Das leise Knurren seines Magens und der Gedanke an seine Familie, die zu Hause im Dorf wartete, hielten die Aufmerksamkeit des Jungen fest auf seine Schnur gerichtet, als er am Flussufer hockte.

    Ein heftiges Rucken belohnte ihn. Der Junge stieß einen erleichterten Jubelruf aus, als er den Fisch aus dem Wasser zog, der im Licht zappelte und glitzerte.

    Er bemerkte die Gestalt, die auf ihn zuglitt, erst dann, als sie nur noch eine Ruderlänge entfernt war.

    Der Junge runzelte die Stirn und vergaß den Fisch in seinem Korb, als das Objekt sich näherte. Er watete hinaus in das seichte Flussbett, griff zu und nahm es mit ans Ufer. Treibholz hatte vielfältige Verwendungsmöglichkeiten im Dorf und man konnte damit handeln … falls er es bis nach Hause mitschleifen konnte.

    Doch es war kein Treibholz. Der Junge keuchte, als er ein Gesicht bemerkte, das ihn durch mehrere Schichten Kriechpflanzen und Moos hindurch anstarrte.

    Das war eine tote Person, obwohl der Junge nicht erkennen konnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Der Leichnam erinnerte ihn an die mumifizierten Ältesten, die das Dorf Jahr für Jahr zum Ahnenfest zur Schau stellte. Er war in Überreste dunkler, verbeulter Rüstung mit schmutzigroten Rändern gekleidet, auf der ein verrostetes Symbol prangte, das der Junge nicht kannte.

    Die knorrigen, leblosen Hände umklammerten etwas. Mit einiger Anstrengung zog er es heraus.

    Es war ein kleines Buch, das fest in durchnässtes, abgegriffenes Leder eingeschlagen war.

    Der Junge drehte das Tagebuch in seinen Händen, als der Leichnam aufplatzte und ein Gewirr aus hellgrünen Ranken herausschlängelte. Eine glitzernde Sporenwolke stieg aus der Öffnung und der Junge zuckte hustend zurück.

    Mit dem Buch in der Hand rannte der Kleine davon und kratzte sich, weil es in seinem Nacken plötzlich beharrlich juckte. Den Fisch hatte er vollkommen vergessen, als er nach Hause floh.