Short Story
Neeko
das wissbegierige Chamäleon

Neeko

das wissbegierige Chamäleon

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Neeko
das wissbegierige Chamäleon

Neeko wurde auf einer entlegenen und weithin unbekannten Insel tief im Osten geboren, wo die letzten Angehörigen eines uralten vastayanischen Stammes abgeschieden vom Rest der Welt lebten. Sie wurden Oovi-Kat genannt und ihre Ahnenreihe war über Generationen hinweg auf die legendären Vastayaschai’rei zurückzuverfolgen – die Vorfahren aller Vastaya.

Die Oovi-Kat waren friedfertige Wesen von unvergleichlichem Potential. Ihre harmonische Gesellschaft fügte sich fließend ins Geisterreich ein, sodass ihr Scho’ma – ihre spirituelle Essenz – sich durch reine Nähe mit anderen Wesen vermischen und ihnen sogar dazu verhelfen konnte, andere körperliche Formen nachzuahmen. Unter den Oovi-Kat gab es keine Geheimnisse, doch nur wenige waren so wissbegierig, widerstandsfähig oder tatkräftig wie die junge Neeko.

Sie entwickelte eine Vorliebe für Spiele und verbarg Schmuckstücke und Gedanken, um zu sehen, ob andere diese finden konnten. Ihre Wissbegierde kannte keine Grenzen und sie war rein und unschuldig in ihrem bezaubernden Dasein.

Doch das sollte nicht so bleiben. Ein Kataklysmus lauerte am Horizont.

Dank der schnellen Reaktion und der Selbstaufopferung der Ältesten der Oovi-Kat entkam Neeko dem Untergang ihrer Heimat. Ungeschickt nahm sie die Gestalt eines Vogels an und floh vor der schwelenden Zerstörung. Dabei spürte sie, wie die Schreie ihres Volks sich in der ätherischen Kluft zwischen den Welten verloren.

Tage später stürzte Neeko verzweifelt und erschöpft ins Meer. Sie klammerte sich an Treibholz und war der Willkür der Strömungen ausgeliefert, bis eine merkwürdige Silhouette vor ihren Augen aufstieg. Sie nahm Stimmen wahr, die ihr die Wellen entgegentrugen, und so schwamm sie auf das seltsame Gebilde zu.

Mit letzter Kraft kroch sie an Bord eines – wie sich herausstellte – Handelsschiffs, das unterwegs nach Harelport war. Neeko ruhte sich aus, wo es nur ging, und sandte Rufe hinaus in das Geisterreich nach ihrem verlorenen Stamm. Als Antwort bekam sie nur vereinzelte, traurige Echos und Bilder aufragender toter Bäume, die irgendwo hinter einem zerbrechlichen Horizont standen …

Als Neeko das Schiff verließ und die Stadt betrat, fand sie sich in einer merkwürdigen und fremden neuen Welt wieder. All ihre Sinne prickelten. Viele Kreaturen, selbst andere Oovi-Kat, hätten in dieser Situation womöglich Angst verspürt – nicht aber Neeko. In dieser Gesellschaft tummelten sich einzigartige Persönlichkeiten, Fremde mit einer unglaublichen Vielfalt an Absichten und Gestalten. Dies war ein Ort zahlloser Geschichten und Erfahrungen und sie war vollkommen fasziniert davon.

Sie war noch nicht weit gekommen, als sie von einem vastayanischen Seemann namens Krete entdeckt wurde. Neeko konnte nicht jedes seiner Worte verstehen, aber er wollte wissen, welchem Stamm sie angehörte. Neeko benutzte ihr Scho’ma, um sein Gesicht und dessen Ausdruck nachzuahmen und so ihre friedlichen Absichten deutlich zu machen, doch Krete schien das überhaupt nicht zu gefallen. Überwältigt von seinen finsteren Gedanken floh Neeko in die Menge und änderte ihre Gestalt viele Male, bis sie entkommen war.

Umgeben von üppiger, tropischer Vegetation im Hinterland außerhalb von Harelport rang Neeko mit ihren jüngsten Erfahrungen. Sie konnte einfach nicht begreifen, wie jemand sich allein auf Worte als einzige Kommunikationsform verlassen konnte. Das war so … einschränkend?

Sie suchte Trost und nahm die Form der geschmeidigen Dschungelkatzen an, denen sie zwischen den Bäumen begegnete, und versuchte, mit ihnen zu rennen. Neeko liebte es, schnell und wendig zu sein, und die hellen, scharfen Augen der Katzen erinnerten sie an Zuhause – bis sich ihre Anführerin vollkommen unerwartet in eine wunderschöne, starke Frau mit dunklen Haaren verwandelte. Nachdem sie sich eine Weile angespannt angestarrt hatten, stellte sie sich als Nidalee vor und nahm Neeko widerstrebend in die Gruppe auf.

Neeko schreckte davor zurück, die Wahrheiten der Oovi-Kat anderen anzuvertrauen, aber sie spürte eine tiefe Seelenverwandtschaft mit Nidalee, weil sie vermutete, dass diese raubtierhafte Jägerin irgendeine längst vergessene Verbindung zu dem vastayanischen Volk besaß. Ihre Freundschaft erblühte und viele Monate lang durchstreiften sie gemeinsam die Wildnis.

Doch die Ortschaften und Städte riefen trotz all ihrer Makel immer noch nach Neeko. Ihre Vorfahren suchten sie in ihren Träumen auf und zeigten ihr wieder und wieder die bleichen Äste der toten Bäume. Die Bäume brauchten Farbe, um wieder zu erblühen – dessen war sich Neeko sicher. Sie bat ihre Freundin, sich ihr auf dieser neuen Reise anzuschließen, doch Nidalee ließ sich nicht überreden.

Niedergeschlagen, aber entschlossen machte Neeko sich allein auf den Weg.

Ihr altes Leben unter den Oovi-Kat mag für immer verloren sein, doch Neeko stellt sich eine magische Zukunft vor – einen noch größeren Stamm gleichgesinnter Vastaya, Yordle, Menschen und aller anderen Kreaturen, die ihren Traum teilen. In ihren Augen hat jeder das Zeug dazu, einen Platz in ihrem neuen Stamm zu finden. Sie hat geschworen, diese Seelen zu finden, sich mit ihnen anzufreunden und ihr Scho’ma mit ihrem Leben zu verteidigen.

Neeko zu kennen, heißt, Neeko zu lieben, und Neeko zu lieben, heißt, Neeko zu sein.