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Das Messer des Pfluges schnitt durch die unnachgiebige Erde und beförderte den gefrorenen Untergrund an die Frühlingssonne. Riven ging auf dem kleinen Feld hinter dem Ochsen mit dem Pflug her und hatte alle Hände voll zu tun, die weit auseinanderstehenden Griffe ruhig zu halten, während sie unbeholfen fremde Worte mit ihrem Mund formte.
„Emai. Fair. Svasa. Anar.“
Mit jedem Schritt wurde der lehmige Geruch frisch gepflügter Erde in der Luft intensiver. Riven hielt das Holz fest umklammert. In den letzten Tagen hatten die rauen Griffe alte Schwielen und flüchtige Erinnerungen hervorgebracht.
Riven biss sich auf die Lippe, um die Gedanken zu vertreiben, und fuhr mit ihrer Arbeit fort. „Mutter. Vater. Schwester. Bruder.“
Der ausgezehrte Ochse zuckte beim Ziehen mit einem Ohr, während der Pflug Erdklumpen und kleine Steine in die Luft schleuderte. Sie trafen Riven, aber sie schenkte ihnen keinerlei Beachtung. Sie trug ein grob gewebtes Oberteil, die schmutzigen Ärmel hatte sie wulstig aufgerollt. Die Hosen, aus dem gleichen Material, waren erdig-gelb eingefärbt worden. Sie waren an den Beinenden umgeschlagen und für den ursprünglichen Träger mittlerweile viel zu kurz, doch ihr reichten sie gerade bis zu den Knöcheln, an ihre einfachen, schmutzverkrusteten Schuhe.
„Emai. Fair. Svasa. Anar“, fuhr Riven mit dem Mantra fort, um sich die Worte einzuprägen. „Erzai, Sohn. Dyeda …“
Ohne langsamer zu werden, strich sie sich mit ihrem Ärmel eine schweißgetränkte Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie hatte muskulöse Arme und hielt den Pflug mühelos mit einer Hand. Der Bauer war ins Haus gegangen, um einen Wasserschlauch und ihr Mittagessen zu holen. Sie könne am angrenzenden schattigen Waldrand eine Pause einlegen, hatte ihr der alte Mann gesagt, doch Riven hatte darauf bestanden, die Arbeit zu Ende zu bringen.
Eine kühle Brise blies ihr über den schweißnassen Nacken und sie sah sich um. Das noxianische Imperium hatte versucht, Ionia zu unterwerfen. Als Ionia sich nicht beugen wollte, hatte Noxus versucht, es zu vernichten. Riven setzte ihren meditativen Gang hinter dem Pflug fort. Egal wie stark das Imperium auch sein mochte, der Frühling würde in das Land zurückkehren. Es war über ein Jahr her, seit Noxus vertrieben worden war, und endlich fand sich frisches Grün zwischen dem Grau und Braun von Regen und Schlamm. In der Luft selbst schien ein Neuanfang zu liegen. Hoffnung. Riven seufzte und die grob geschnittenen Haarsträhnen berührten ihr Kinn.
„Dyeda, Tochter“, begann sie erneut und entschlossen. Sie hielt die hölzernen Griffe wieder mit beiden Händen. „Emai. Fair.“
„Es heißt fa-ir“, rief eine Stimme aus den Schatten des Waldes.
Riven blieb abrupt stehen. Die Griffe des Pfluges schlingerten in ihren Händen, als die Lederriemen den dürren Ochsen zu einem plötzlichen Halt brachten. Der Pflug schnitt tief in einen harten Erdklumpen und klirrte, als das Messer auf einen Stein prallte.
Die Stimme war nicht die des alten Mannes.
Riven versuchte, gleichmäßig zu atmen, und ließ die Luft langsam durch den Mund entweichen. Es war eine einzige Stimme, doch es könnten noch mehr im Verborgenen lauern. Sie kämpfte gegen ihr jahrelanges Training an, das sie zu einer defensiven Haltung drängte. Stattdessen entspannte sie ihren Körper und richtete ihren Blick auf den Pflug und das Lasttier vor ihr. Riven fühlte sich zu leicht. Sie hielt die Holzgriffe des Pfluges nun fest umklammert. An ihrer Seite hätte sie eigentlich ein Gewicht spüren sollen, das sie verankerte und beschwerte. Das kleine Feldmesser an ihrer rechten Hüfte nahm sie dagegen kaum war. Mit der kurzen, gebogenen Klinge konnte man Tauäpfel und hartnäckiges Unkraut schneiden, aber ansonsten war es zu nichts zu gebrauchen.
„Das Wort heißt fa-ir.“
Der Sprecher trat am Rand des Feldes hervor, wo der Ackerboden in eine Reihe dicker Kiefern überging.
„In der Mitte ist eine Pause“, sagte der Mann und schritt nach vorn. Sein wildes, dunkles Haar war zu einem Zopf zusammengebunden. Über seinen Schultern hing ein gewebter Mantel. Er bedeckte weder die metallene Schulterplatte auf seiner linken Seite noch das blanke Schwert an seiner Hüfte. Er stammte aus einer Kriegerkaste, diente jedoch keinem bestimmten Haus oder Bezirk. Er war ein Wanderer.
Und wahrscheinlich gefährlich.
„Fa-ir“, wiederholte er.
Riven sprach nicht – nicht aus Mangel an Worten, sondern wegen ihres Akzentes. Sie ging um den Pflug herum, damit er zwischen ihr und dem sprachgewandten Fremden war. Sie klemmte eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und beugte sich vor, um das Messer des Pfluges genauer zu untersuchen, und täuschte Interesse an dem getroffenen Stein vor. Es war dazu gemacht, durch Grasnarben und Lehm zu pflügen, und würde sich als nützlicher erweisen als ihr Feldmesser. Sie hatte den Alten am Morgen beobachtet, wie er es am Holzgestell befestigte, und wusste daher, wie man das Messer wieder lösen konnte.
„Ich erinnere mich nicht daran, dich gesehen zu haben, als ich das letzte Mal hier im Dorf war. Allerdings ist das auch schon eine ganze Weile her“, wandte sich der Mann wieder an sie. In seiner Stimme schwang die gleichgültige Rauheit eines langen Lebens auf Wanderschaft mit.
Das ewige Summen der Insekten wurde lauter, da Riven die wachsende Stille zwischen ihnen nicht füllen wollte.
„Angeblich werden den Magistraten neue Beweise im Todesfall des Ältesten Souma präsentiert“, fuhr er fort.
Riven ignorierte ihn und tätschelte den geduldigen Ochsen. Sie ließ ihre Finger über die Lederriemen gleiten, als wäre sie mit dem Geschirr von Pferden und Hoftieren vertraut, und verjagte eine Mücke, die an den großen, dunklen Augen des Ochsen saß.
„Wenn du noch nicht lange hier bist, weißt du vermutlich nicht viel über diesen Mord.“
Sie blickte auf und ihre Blicke trafen sich, der Ochse stand weiterhin unbeteiligt zwischen ihnen. Über den Nasenrücken des Mannes zog sich eine Narbe. Riven fragte sich, ob derjenige noch lebte, der dafür verantwortlich war. In den Augen des Fremden lag Härte, doch darunter verbarg sich Neugier. Riven spürte den Boden unter den Sohlen ihrer dünnen Lederschuhe erzittern. Ein donnerndes Geräusch erfüllte die Luft, doch der Himmel war wolkenlos.
„Es kommt jemand“, bemerkte der Mann mit einem Lächeln.
Riven blickte über ihre Schulter auf den Hügel, der zum Bauernhaus des alten Mannes führte. Sechs bewaffnete Reiter erreichten die kleine Anhöhe und führten ihre Tiere geradewegs auf das kleine gepflügte Feld zu.
„Da ist sie“, rief einer von ihnen. Er hatte einen starken Akzent und Riven hatte Schwierigkeiten, die Nuancen der Sprache zu verstehen, die sie so verbissen lernte.
„Aber … ist sie allein?“, fragte ein anderer mit Blick auf die Schatten zwischen den Bäumen.
Eine schnelle Brise legte sich um Riven und den Pflug, bevor sie sich in die Schatten des Waldes zurückzog. Riven blickte auf die Stelle, an der eben noch der Fremde gestanden hatte, doch er war fort und die Reiter ließen ihr keine Zeit für Grübeleien.
„Vielleicht hast du einen Geist gesehen“, lachte der Anführer. „Jemand, den sie auf dem Gewissen hat und der nun auf Rache aus ist.“
Die Reiter setzten ihre Pferde in Trab, umzingelten Riven und zerstörten dabei die gleichmäßigen Furchen, die sie am Morgen gepflügt hatte. Der Anführer hatte hinten auf seinem Pferd ein in Stoff gewickeltes Paket. Rivens Augen folgten dem Pferd, während die anderen sie umkreisten und ihre Hufe die lockere Erde wieder in kalten, harten Lehm verwandelten.
Sie schenkte dem Messer des Pfluges einen letzten, flüchtigen Blick. Zwei der Reiter trugen Armbrüste. Sie würde niedergestreckt werden, bevor sie auch nur einen von ihnen erreichte. Ihre Finger wollten die potenzielle Waffe unbedingt berühren, doch sie befahl ihnen, sich nicht zu rühren.
Ihre Muskeln wurden steif. Ein Körper, der so lange auf Krieg getrimmt worden war, gab sich nicht so einfach dem Frieden hin. Das Blut rauschte ohrenbetäubend laut in ihrem Kopf. Du wirst sterben, dröhnte es, aber sie auch.
Riven streckte die Finger nach dem Pflugmesser aus.
„Lasst sie in Ruhe!“ Die Stimme der Frau des alten Bauern – kräftig durch das Rufen nach verirrten Rindern – schallte über das Feld und riss Riven aus ihrem selbstzerstörerischen Instinkt. „Asa, beeil dich. Du musst etwas unternehmen.“
Die Reiter hielten inne, als der Bauer und seine Frau den Hügel erklommen. Riven biss sich fest auf die Innenseite ihrer Wange. Der Schmerz erdete sie wieder und ihre Kampfeslust versiegte. Sie würde kein ionisches Blut auf ihrem Feld vergießen.
„Ich habe euch doch gesagt, dass ihr im Haus bleiben sollt, bis wir hier fertig sind“, fuhr der Anführer die beiden an.
Der alte Mann, Asa, hinkte über die unebene Erde. „Sie hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Ich bin derjenige, der es gebracht hat“, sagte er und zeigte dabei auf das in Stoff gewickelte Bündel. „Ich werde dafür Rede und Antwort stehen.“
„Meister Konte. O-fa“, erwiderte der Anführer. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem herablassenden Grinsen. „Ihr wisst, was sie ist. Sie hat sich einiges zuschulden kommen lassen. Wenn es nach mir ginge, würde sie hier an Ort und Stelle sterben.“ Er musterte Riven von oben bis unten und rümpfte dann seine Nase. „Leider kannst du, alter Mann, bei der Anhörung sprechen.“
Während der Anführer sprach, waren Rivens Füße in der feuchten Erde versunken, so dass sie sich momentan nicht bewegen konnte. Sie steckte fest und fühlte, wie sie nach unten gezogen wurde. Ihr Puls war flach und kalter Schweiß lief ihr zwischen den Schultern den Rücken hinunter, während sie versuchte, sich zu befreien. Im Geiste war sie auf einem anderen Feld, in einer anderen Zeit. Pferde schnaubten und ihre Hufe trampelten auf blutgetränkter Erde.
Riven schloss ihre Augen, bevor sie in weiteren schrecklichen Erinnerungen ertrinken konnte. Sie holte tief Luft. Der Frühlingsregen hat diesen Boden durchtränkt, nicht das Blut der Toten, sagte sie sich. Wenn ich meine Augen öffne, werden nur die Lebenden vor mir stehen.
Als sie ihre Augen öffnete, war das Feld ein frisch gepflügtes Feld und kein offenes Grab. Der Anführer der Reiter stieg von seinem Pferd ab und schritt auf sie zu. In seiner Hand hielt er ein Paar Handschellen aus ionischem Metall, die weitaus schöner waren als alles, womit man Kriminelle in ihrer Heimat fesseln würde.
„Du kannst deiner Vergangenheit nicht entkommen, noxianische Hündin“, triumphierte der Anführer ruhig.
Riven sah vom Pflugmesser zu dem alten Bauernpaar hinüber. Die Falten in ihren Gesichtern zeugten bereits von so viel Schmerz. Sie würde ihnen nicht noch mehr bescheren. Das konnte sie nicht. Riven versuchte, sich die beiden einzuprägen, wie sie sich gegenseitig stützten. Es war ein Moment zaghaften Widerstandes, bevor sie erkannten, dass ihnen etwas genommen werden würde. Als der alte Mann mit dem Ärmel über seine feuchte Wange fuhr, musste sie sich abwenden.
Riven hielt dem Anführer der Reiter ihre Handgelenke hin. Sie begegnete seinem selbstgefälligen Grinsen mit kaltem Blick und ergab sich den Metallfesseln.
„Keine Sorge, Dyeda“, rief die Frau des Bauern. Riven konnte die angespannte Hoffnung in ihrer Stimme hören. Das war zu viel. Zu viel Hoffnung. Der Wind trug die angespannten Worte und den Geruch frisch gepflügter Erde zu ihr, während sie immer weiter fortgeführt wurde. „Dyeda“, flüsterte er. „Wir werden ihnen sagen, was du bist.“
„Dyeda“, flüsterte Riven zurück. „Tochter.“
Nachdem das Mädchen sich ergeben hatte, gab es für Shava Konte zwei Tage lang nichts weiter zu tun, als ihrem Mann dabei zu helfen, die zertrampelten Furchen in Ordnung zu bringen und Pflanzen auf dem Feld zu säen. Die Vorarbeit des Mädchens erleichterte ihnen diese Aufgaben, doch wären ihre Söhne noch am Leben, müssten sich weder Asa noch sie anstrengen.
Am kalten Morgen des Tribunals verließ das alte Paar noch vor Sonnenaufgang ihr Haus, um trotz ihrer alten Knochen den Ratssaal des Dorfes rechtzeitig zu erreichten.
„Sie wissen, dass sie aus Noxus ist.”
„Du machst dir zu viele Sorgen“, wendete Shava ein und schnalzte aufmunternd mit der Zunge. Als sie erkannte, dass sie so zwar Hühner, nicht aber ihren Ehemann beruhigen konnte, schenkte sie ihm ein hoffnungsvolles Lächeln.
„Noxianerin. Das genügt ihnen, um sie für schuldig zu erklären“, murmelte Asa in den handgestrickten Wollschal um seinen Hals.
Shava, die den Großteil ihres Lebens damit verbracht hatte, sture Tiere zum Schlachter zu treiben, hielt kurz inne und wandte sich ihrem Ehemann zu.
„Sie kennen sie nicht so gut wie wir“, erklärte sie und bohrte ihm frustriert den Finger in die Brust. „Darum bist du ja hier, um für sie zu sprechen, du altes Schaf.“
Asa kannte seine Frau und wusste, dass ein weiterer Einwand ihre Meinung nicht ändern würde. Stattdessen nickte er sanft. Shava ließ ein missbilligendes Brummen verlauten, wandte sich wieder der Straße zu und marschierte still in die Stadtmitte. Der Ratssaal füllte sich langsam. Als sie den Andrang sah, schlüpfte sie durch die engen Spalten zwischen den Bänken, um einen Platz weiter vorn zu erhaschen … und stolperte kurzerhand über das Bein eines schlafenden Mannes.
Die alte Frau schrie leise auf, als sie nach vorne fiel, und der Mann grunzte im Schlaf. Blitzschnell streckte er seine Hand aus und fing die alte Frau mit eisernem Griff auf, bevor sie auf dem Steinboden aufschlug.
„Du musst vorsichtiger sein, Baab-Tsha“, flüsterte der Fremde respektvoll. Sein Atem roch nach Alkohol, doch er sprach klar und deutlich. Als die alte Frau wieder auf den Füßen war, zog er seine Hand sofort zurück.
Die alte Frau schaute mit zusammengekniffenen Augen auf ihren unerwarteten Retter. Unter ihrem prüfenden Blick zog sich der Mann noch tiefer in den Schatten seines Mantels zurück, der um Schultern und Gesicht gewickelt war. Die Umrisse einer Narbe auf seiner markanten Nase verschmolzen mit der Dunkelheit.
„Der Ratssaal ist kein Ort, an dem man seinen Rausch ausschläft, junger Mann.“ Shavas Missbilligung stand ihr ins Gesicht geschrieben, während sie ihre Kleider richtete. „Heute wird über das Leben einer Frau entschieden. Geh lieber, bevor deine eigenen Missetaten vor den Magistraten erörtert werden.”
„Shava.“ Der alte Mann hatte seine Frau eingeholt und legte ihr die Hand auf den Arm. „Du musst dein Temperament zügeln, wenn wir heute etwas erreichen wollen. Er wollte niemanden verletzen. Lass ihn.“
Der vermummte Fremde machte mit zwei Fingern eine beschwichtigende Geste, hielt sein Gesicht jedoch verborgen. „Du redest nicht lange um den heißen Brei herum, Baab-Tsha“, beobachtete er belustigt.
Shava ging weiter und trug ihre Empörung wie ein empfindliches Geschenk mit sich. Der alte Mann tippte sich im Vorbeigehen an den Kopf.
„Richte sie nicht zu vorschnell, mein Junge. Sie sorgt sich, dass eine unschuldige Seele schuldig gesprochen wird, bevor die Wahrheit ans Licht kommt.“
Als der alte Mann weiterging, brummte der vermummte Mann verständnisvoll. „Da sind wir derselben Meinung, O-fa.“
Bei diesen seltsamen, gedämpften Worten blickte der alte Mann zurück. Der Platz war leer. Nur ein Windhauch strich durch die Kleider eines Paares, das in der Nähe in ein Gespräch vertieft war. Der vermummte Fremde zog sich bereits in die hinteren Schatten des Ratssaales zurück.
Die Magistrate blickten in den überfüllten Saal, während sie an der Stirnseite des Tisches Platz nahmen und ihre glatten Roben hinter sie fielen. Der Lärm in dem großen Raum wurde zur raunenden Stille. Eine der drei Magistrate, eine große, schlanke Frau mit Hakennase, stand feierlich auf.
„Dieses Tribunal wurde einberufen, um neue Aussagen in der Angelegenheit des Todes von Ältestem Souma anzuhören.“
Ein Raunen wie hundert Heuschrecken schwoll in der Mitte der Menge an. Einige hatten von den neuen Beweisen bereits gehört, die die Richterin erwähnt hatte, aber die meisten waren hier, weil sich angeblich ein Noxianer unter ihnen befand. Doch Gerüchte konnten nicht widerlegen, was sie alle wussten: Die Todesumstände des Ältesten Souma waren kein Mysterium. Die Windtechnik, die Magie, die seine Meditationshalle leergefegt hatte, war Beweis genug. Nur einer hätte neben Souma ein solches Manöver durchführen können.
Die Wunde, die nur ungleichmäßig verheilt war, öffnete sich erneut und die Erinnerungen der Menge vereinten sich in einem Augenblick gemeinschaftlichen Schmerzes. „Wäre der Älteste nicht gefallen“, riefen sie einander zu, „hätte das Dorf nicht so viele Verluste erlitten.“ Kurz nach dem Mord hatte ein halber noxianischer Kriegstrupp auf dem Weg nach Navori viele Männer, Frauen und Kinder abgeschlachtet. Unzählige Söhne und Töchter waren den Noxianern zum Opfer gefallen, die in der chaotischen Leere, die Soumas Tod hinterlassen hatte, leichtes Spiel gehabt hatten. Und noch schwerer wog, dass das Dorf jemandem aus ihren Reihen die Schuld gegeben hatte.
Aus dem Summen erhob sich eine klare Stimme.
„Wir wissen bereits, wer den Ältesten Souma ermordet hat“, sprach Shava durch spröde Lippen. „Es war Yasuo, der Verräter.“
Die Menge nickte zustimmend und raunte bitter.
„Wer beherrschte die Windtechnik des Ältesten Souma? Yasuo!“, setzte Shava nach. „Und Yone ist von der Verfolgungsjagd auf seinen entehrten Bruder noch nicht zurückgekehrt. Wahrscheinlich ist der Feigling auch dafür verantwortlich.“
Das Zähneknirschen der Menge schwoll erneut an und forderte gerechte Strafe für Yasuo. Shava kam auf der Bank langsam zur Ruhe. Sie war zufrieden, dass die Schuldfrage geklärt worden war.
Die Richterin mit der Hakennase stammte aus einer Familie mit einer langen Tradition im Holzflechten, die dafür berühmt war, auch die hartnäckigsten Maserknollen aufdrehen und glätten zu können. Sie hob eine makellos runde Kugel aus hartem, abgenutztem Kastanienholz und schlug damit bestimmt auf den rabenschwarzen Resonanzblock. Der durchdringende Ton ließ die Menge verstummen und Ordnung in den Saal einkehren.
„Dieses Gericht hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Todesumstände von Ältestem Souma zu erforschen“, stellte die Richterin klar. „Möchtet Ihr Euch der Wahrheitsfindung in den Weg stellen, Frau …?“
Die alte Frau sah zu ihrem Ehemann und spürte, wie ihre Wangen erröteten. „Konte. Shava Konte“, sagte sie kleinlaut. Sie senkte ihren Kopf. Der alte Mann auf dem Hocker beobachtete sie und wischte sich den Schweiß von seinem schütter werdenden Haupt.
„Wie ich bereits sagte, sind wir hier, um neue Beweise aufzunehmen.“ Die Richterin blickte in die Menge, um sich um weitere Sturköpfe zu kümmern, und nickte schließlich Melkor, dem Gerichtsvollzieher, zu. „Bitte bring sie herein.“