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Ich war jung und ungestüm, mein Herz erfüllt von einer Rechtschaffenheit, die jeden Schatten eines Zweifels vertreiben konnte, als ich zum ersten Mal Barrett Buvelle traf.
Er beobachtete mich von seinem Platz neben dem Thron des jungen Königs Jarvan III., der erst vor vierzehn Tagen gekrönt worden war, als ich in die Hallen des Mutes schritt, sobald ich vom Ausrufer genannt wurde. Beide jungen Männer schienen kurz interessiert – ich weiß, dass ich in diesem Alter attraktiv war, obwohl ich alles unternahm, diese Schönheit zu verbergen –, doch der junge König wirkte hauptsächlich gelangweilt von den unzufriedenen Adelsfamilien und ihrer überdrüssig.
Barrett flüsterte etwas in Jarvans Ohr, bevor dieser fortfuhr. Ich konnte nur Barretts Silhouette an seiner linken Seite erkennen, während er sich zum König neigte. Wie damals schon, so wie immer. „Lestara Demoisier“, sagte Jarvan mit kräftiger und deutlicher Stimme, die durch die weitläufigen Hallen aus Petrizit und Marmor hallte. „Was bringt Euch heute hierher?“
„Euer Versagen.“
Damit hatte ich ihre Aufmerksamkeit. Jarvan hob seine Augenbrauen, bis an den Rand seiner Krone. Barrett umklammerte mit weit aufgerissenen Augen die Schulter seines Herrn.
„Mein Versagen?“ , fragte Jarvan gleichermaßen verwirrt wie amüsiert. „Mein Versagen wobei? Ich regiere weniger als vierzehn Tage, wobei könnte ich jetzt schon versagt haben?“
„Ihr seid mittlerweile ganze zwei Wochen lang König und habt noch nichts gegen das Leid Eurer Untertanen unternommen.“
Er verdrehte die Augen, als würde er wissen, was ich denke. Ich bin mir sicher, dass damals viele junge Mädchen den König angefleht haben mussten, in der Hoffnung, ihr eigenes Ansehen und das ihrer Familie zu stärken. Er musste bereits genug davon haben. „Ich kann den Adelsstand der Demoisiers nicht ohne guten Grund noch weiter anheben. Wie ich zahllosen anderen Bittstellern heute bereits erklärt habe, wenn Ihr eurem Land in der Schlacht dient, –“
„Ich spreche nicht von den Adeligen.“
Zum ersten Mal wendete sich Barrett mir erstaunt zu. Ich sehe immer noch seine glänzende Rüstung vor mir, versehen mit dem edlen Siegel der Buvelles auf der Brust. Sie schimmerte wie ein Diamant. Genau wie seine Augen.
„Von wem“, fragte Jarvan gespannt, „sprecht Ihr dann?“
Auf genau diese Gelegenheit hatte ich gewartet. Ich räusperte mich, denn ich hatte viel zu sagen. Ich holte meine Halskette unter meiner Bluse hervor und zeigte ihnen das Symbol der Illuminatoren, eine brennende Kerze. „Von euren Untertanen“, sagte ich mit einer Stimme voller Gift. „In Demacia leben Menschen ohne Heim oder Lebensgrundlage, und Ihr habt versagt, ihnen das zu bieten, während Ihr damit beschäftigt seid, zwischen verfeindeten Adelsgeschlechtern zu vermitteln. Gute Menschen, ehrliche Menschen, müssen auf der Straße leben, nachts in Scheunen Unterschlupf suchen oder tagelang hungern, weil sie jeden Bissen, den sie ergattern können, an ihre Kinder weitergeben. Wenn Ihr wirklich das Beste für Euer Königreich wollt, müsst Ihr Euch um sie kümmern … nicht um jene, die bereits mehr als genug haben.“
Einen Moment lang schwiegen beide Männer verblüfft, bevor Barretts herzhaftes Gelächter die Hallen erfüllte, den Thronsaal durchdrang und schließlich meine schamroten Ohren erreichte. Die Demütigung fühlte sich wie ein Stein in meinem Magen an.
Dann ging er auf mich zu. Ich wich argwöhnisch zurück, aber er war schneller. Er nahm meine Hand in seine und sagte …
Nun ja. Leider erinnere ich mich nicht mehr, was genau er gesagt hat. Mein Gedächtnis kann in vielerlei Hinsicht so klar sein, in anderer hingegen so verworren. Im Großen und Ganzen meinte er, er würde sich persönlich um ein Projekt kümmern, mit dem alle notleidenden Demacianer ein Dach über dem Kopf bekommen sollten. Jarvan III. starrte seinen Freund ungläubig an. Offensichtlich hatte er nicht ein Wort dieses Versprechens an mich bewilligt.
Doch Barrett hat sich niemals für etwas verpflichtet, das er nicht auch einhielt. Also blickte er seinen Kindheitsfreund nur an, bis der König zustimmend nickte. „Diese Menschen sollten schon seit langer Zeit Unterstützung erhalten“, sagte der König und blickte mich mit neugewonnenem Respekt an. „Vielen Dank, dass Ihr mich auf diesen Missstand aufmerksam gemacht habt. Fürst Buvelle und ich werden uns umgehend daran machen, ihn zu beheben.“
Ich errötete und starrte auf meine Hand, die von Barretts Fingern zart umschlossen wurde. Natürlich wusste ich selbst damals schon, wer er war. Die rechte Hand des jungen Königs. Der Mann, der den König besser kannte als jeder andere. Der Mann, für den der König töten würde, und der Mann, für den der König ohne zu zögern sterben würde.
„Ich bereue nur, dass wir so lange gebraucht haben“, sagte Barrett Buvelle lächelnd, „um zu tun, was für Euch so offensichtlich war, Lestara Demoisier.“
Da hat er zum ersten Mal meinen Namen ausgesprochen.
Das letzte Mal war vor etwas mehr als sechs Wochen.
Und ich werde ihn nie wieder aus seinem Mund hören.
Seit drei Wochen bin ich eine Witwe, aber es fühlt sich immer noch nicht … wirklich an.
Barrett war immer wieder längere Zeit fort, wenn er seine Soldaten führen musste. Meistens drei Monate. Manchmal haben Kahina und ich ihn an der Front besucht und ihm dabei geholfen, Essen, Vorräte und gute Laune unter den Demacianern zu verbreiten, die für uns ihre Leben riskierten. Aber nicht oft.
Dieses Mal fühlt es sich immer noch an, als könnte er jederzeit durch unsere Eingangstür schreiten, Sorge in seinem Gesicht für die jungen Soldaten, für die Familien, die um sie trauern werden, wenn sie ihre Leben für ihr Land geben.
Er war ein Kaplan. Er sollte nie in der Schlacht sterben.
Natürlich hat nicht nur Barrett sein Leben gegeben. Mir wurde gesagt, die Schlacht war aussichtslos. Sogar die Furchtlose Vorhut war den Feinden Demacias nicht gewachsen. Unvorstellbar, bis es tatsächlich passierte. Wie treffend, dass mein Mann und so viele andere an einem Ort namens Tore der Trauer gestorben sind.
Er wollte die Beerdigung abhalten, sobald Barretts Leiche an uns überführt worden war. Ich sagte zu Jarvan, er müsse zunächst dem gefallenen Hochmarschall die Ehre erweisen, dass er nicht seine Liebe für meinen Ehemann über die Pflicht gegenüber jenen stellen dürfe, die ihm mit Schwert und Seele gedient hatten. In Wahrheit aber bat ich ihn darum, weil ich nicht verkraften konnte, wie wirklich alles werden würde.
Doch Begräbnisse lassen sich nicht ewig aufschieben. Heute muss ich die Stärke finden, ihm Lebwohl zu sagen.
Die ersten vier Male, als Barrett mich um meine Hand gebeten hatte, habe ich nein gesagt.
„Warum“, fragte ich voll Mitgefühl für ihn, „fragt Ihr mich immer wieder, wenn ich Euch doch immer dieselbe Antwort gebe?“
„Eben weil Ihr mir immer wieder dieselbe Antwort gebt, muss ich immer wieder fragen“, antwortete Barrett mit seinem geduldigen Lächeln, das ich seit unserem ersten Treffen so sehr lieben gelernt hatte. Er hatte mich in die Palastgärten geführt, wo der wolkenlose Himmel und die Lilien in seinen Augen tanzten. Ein romantischeres Umfeld als bei seinen ersten drei Versuchen, muss ich eingestehen.
„Ihr wisst, warum ich nicht annehmen kann.“ Ich hatte mir selbst schon früh geschworen, dem Orden der Illuminatoren beizutreten, um den Bedürftigen zu helfen, ihnen Unterkunft, Nahrung und Arbeit zu geben, ihren Geschichten zu lauschen und vielleicht sogar einige Heilkünste zu erlernen, um ihr Leid zu lindern. Die Illuminatoren schienen wahrlich die Werte zu verkörpern, die mir als Demacianerin vermittelt worden waren. Die Zeit mit ihnen hatte mir die Vorstellung eines Lebens in ihrem Dienst schmackhaft gemacht. Und obwohl es Illuminatoren gab, die ihre guten Taten mit den Bedürfnissen eines Familienlebens vereinbaren konnten, heirateten jene, die ihr Leben voll und ganz dem Orden verschrieben, nicht und verbrachten ein klösterliches Dasein. Dies war auch mein Ziel.
„Das weiß ich.“ Barrett wusste das über mich, aus unseren vielen Gesprächen über die herrschende Ungerechtigkeit und wie sie beseitigt werden könnte. Doch er blieb immer seiner Vorstellung treu, dass Liebe alles überwinden könnte, sogar den Wunsch eines starrköpfigen Mädchens, Gutes zu tun.
Und seine Beharrlichkeit, nicht nur in seinen Heiratsanträgen, sondern auch, wie er mir durch seine Taten seine Liebe bewies, ließ meine Entschlossenheit schwinden. Denn auch ich hatte ihn lieben gelernt – nicht absichtlich, sondern durch seine Anstrengungen –, und jede Absage, die ich ihm erteilte, lastete schwer auf mir. Ich konnte mir das wunderschöne Leben mit diesem Mann nur zu leicht vorstellen.
Meine Hände zitterten und meine Augen brannten, als ich mich von ihm abwendete. „Ihr müsst anderswo nach einer Ehefrau suchen, Barrett, ansonsten sind alle guten Frauen bald vergeben.“
„Ich werde niemanden als Euch heiraten.“
„Eure Familie wird das nie erlauben“, sagte ich mit einem freudlosen Lachen. Ich konnte mir keine Zukunft vorstellen, in denen die Buvelles Barrett nicht zu einer Heirat zwangen, und sei es nur für einen zukünftigen Erben.
„Liebt Ihr mich?“
„Natürlich.“
„Und wisst Ihr, dass ich Euch liebe?“
„Ja. Das habt Ihr äußerst klar gezeigt.“
„Dann lasst mich auch etwas Anderes klar zeigen.“ Er hielt inne. „Ich würde mich freuen, wenn wir darüber sprechen könnten, während … wir einander anblicken. Wenn Ihr das auch wollt.“
Ich schüttelte meinen Kopf, wissend, dass ich in Tränen ausbrechen würde, wenn ich ihn in diesem Moment ansehen würde.
„Nun gut.“ Ich hörte, wie er mehrmals tief einatmete und vermutlich seine Schultern streckte, um sich zu entspannen. „Meine Familie hat im Laufe der Jahrhunderte ein großes Vermögen und viel Einfluss erlangt. Wenn Ihr mich darum bitten solltet, … würde ich all das den guten Taten zur Verfügung stellen, die Ihr vollbringen wollt. Um dem Volk von Demacia zu helfen. Allen Demacianern.“
Mir blieb die Luft weg. Das gesamte Vermögen der Buvelles für die Notleidenden? Das würde alles übersteigen, was ich jemals mit den Illuminatoren erreichen könnte.
Ich drehte mich um, plötzlich von Wut darüber erfüllt, dass er meine Hand erkaufen wollte. „Aber Ihr würdet das nicht machen, wenn ich euch nicht heirate? Das macht Euch nicht zu einem ehrenwerten Mann, Barrett, sondern zu einem tückischen.“
Barrett blinzelte mich verwirrt an. „Wann habe ich gesagt, dass Ihr mich im Gegenzug heiraten müsstet? Ihr müsst mich nur um mein Vermögen bitten. Meine Hand leiten, mich verstehen lehren, wo ich Gutes tun kann.“
Ich starrte ihn an, mein Ärger verflogen wie Rauch. Barrett hatte mir gerade sein Leben verschrieben, ohne etwas von mir zu fordern. Und sein Wort war für ihn Gesetz – wenn er etwas sagte, meinte er es auch.
Wie konnte ein Mann nur so gütig sein?
Er lächelte erneut, zärtlich und mit Liebe in den Augen. „Ich gebe aber zu, dass ich dies mit Euch in meinem Leben mehr genießen würde.“
Und so fragte er mich ein fünftes Mal.
Und dieses Mal sagte ich ja.
Auf meine Bitte hielt Jarvan III. zunächst das Begräbnis des Hochmarschalls ab. Bürger und Soldaten aus ganz Demacia waren angereist, um beizuwohnen, wie der verstorbene Purcivell Bronz seinen Platz unter den anderen Helden in den Hallen des Mutes einnahm. Die Straßen waren von Trauernden erfüllt und Bronz wurde von den Menschen, denen er gedient hatte, mit größtem Respekt verabschiedet.
Die Stadt ist nicht groß genug für all die Menschen, die meinen Ehemann betrauern wollen.
Die Tavernen sind voll. Vor den Stadtmauern stehen tausende Zelte, in ihnen jene, deren Leben von den guten Taten meines Ehemanns bereichert worden waren. Die Route der Prozession musste zweimal geändert werden, um allen die Möglichkeit zu bieten, den Sarg zu berühren und zu trauern.
Ich kann meine Fassung nur dank meiner beiden Töchter bewahren, die meine Hände fest in ihren hielten. Ich kann ihren Puls in ihren Händen fühlen. Er versichert mich, dass sie beide gesund, am Leben und hier sind.
Üblicherweise ist der Thronsaal mit den Trauernden gefüllt, die den Gefallenen die Ehre erweisen wollen, doch heute hat der König bestimmt, wer ihn betreten darf. Er hat großmütig gestattet, dass die Hallen des Mutes in der nächsten Woche der Öffentlichkeit zugänglich sind, heute aber nur einer kleineren Gruppe. Ich erkenne nahezu alle Gesichter, obwohl ich die meisten nicht als Freunde bezeichnen würde.
Adelige. Hochgeborene. Wichtige Politiker.
Jarvan hat auf meine Bitte hin erlaubt, dass ein Illuminator die Trauerfeier leitet. Meisterin Myrtille, eine geschätzte Heilerin und Mentorin meiner Tochter Kahina, trägt die bekannte Dichtung vor:
Eine Flamme, die einst hell brannte, ist erloschen.
Wir trauern um ihr Licht, die Wärme, die sie uns gespendet hat.
Und obwohl wir nichts als Rauch sehen,
Erinnert euch, dass kein Licht jemals ganz erlischt.
Nicht, wenn es andere entflammen ließ,
Um hell zu leuchten, mit Leidenschaft zu brennen.
Ihre Wärme lebt in anderen weiter, und ihr Licht brennt,
Solange wir jenen Funken ehren, den wir alle in uns tragen.
Diese Worte bringen keinen Trost, aber nach Jahrzehnten, in denen ich sie immer wieder gesagt habe, bringe ich sie leicht über die Lippen.
Ich muss zugeben, dass ich der Trauerfeier nicht viel Aufmerksamkeit schenke. Stattdessen wandert mein Blick zum Urnenfriedhof. Barretts Rüstung wurde zu einem Gefäß für seine Asche umgeschmiedet, wie es für alle gemacht wird, die in der Schlacht fallen. Ich kann ihn mir in dieser glänzenden Rüstung vorstellen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er jetzt in ihr aufbewahrt wird. Jetzt sieht sie viel zu klein für den Mann aus, denn ich gekannt hatte. Vielleicht ist er gar nicht in ihr.
Es fühlt sich an, als wäre keine Sekunde vergangen, und doch ist es schon an der Zeit für die Grabreden.
„Fürst Buvelle war ein großer Demacianer.“
„Ein mächtiger Krieger.“
„Ein bescheidener Diener der Krone.“
„Ein Bewahrer der Tradition.“
Mein Gesicht wurde vor Zorn hochrot. Barrett hatte seit fast dreißig Jahren nicht mehr in einer Schlacht gekämpft und ihm war viel wichtiger, dem Volk von Demacia zu helfen, als die Traditionen der Adelsfamilien zu „bewahren“. Die meisten Redner sprechen, als hätten sie Barrett nie getroffen, nur von ihm gehört, doch ich weiß, dass viele von ihnen ihn jeden Tag sahen. Wie konnten sie ihn nur so schlecht kennen?
Und doch fühlt sich keine dieser Lobreden verlogener an als jene von Eldred von den Magiesuchenden.
„Fürst Buvelle hatte sich dazu verschrieben, Demacia von seinen schlimmsten Plagen zu befreien.“
Eldred war kein Freund meines Ehemanns, doch spricht er, als würde er Barretts Innerstes verstehen. Und ich wusste zwar, dass Barrett tatsächlich Demacia zu einem besseren Ort machen wollte, aber nicht auf die Weise, wie Eldred es beschrieb.
Mein Ehemann hatte niemals Angst vor Magiern. Wir beide hießen eine unwissentlich in unserem Heim und in unserer Familie willkommen und würden niemals erlauben, dass man sie von uns nimmt. Sona, unsere Adoptivtocher, sitzt heute neben mir und weint leise Tränen, während sie ihren Blick vom Magiesuchenden wendet.
„Er erkannte die Schrecken, die Demacia aus seinem Inneren zu verschlingen drohten und unterstützte Organisationen, die diese Fäulnis beseitigen würden“, sagte Eldred mit einem schlangenhaften Lächeln. „Und seine Unterstützung bedeutete für jene unter uns, die Demacias Zukunft sicherzustellen suchen, die Welt.“
Zu hören, wie mein Ehemann so falsch dargestellt wird, schmerzt.
Jarvan III. ist der letzte Redner vor der Familie. Er erwidert vom Pult meinen Blick, Barretts zerrissenen blauen Wappenrock umklammert und spricht direkt zu mir.
„Barrett Buvelle war für mich wie ein Bruder. Ohne ihn … wäre ich nicht der Mann, der ich heute bin. Der Anführer, der ich heute bin. Ich schäme mich nicht, zu sagen, dass ich ohne ihn ein unbesonnenerer Mann wäre. Ein rücksichtsloserer Mann. Ein Mann, der zwar aufrichtig zu lieben vermag, diese Liebe aber nicht in Worte fassen oder in Taten umsetzen kann. Doch seine Freundschaft hat mich verändert, mir geholfen, zu dem Ehemann und Vater und König zu werden, der ich heute bin. Barrett hat die Seele eines jeden berührt, den er getroffen hat, und jeden zu einem besseren Menschen gemacht.“
„Endlich“, gebärdet Sona mir in Zeichensprache, „spricht jemand von Vater, wie er wirklich war.“
Sie hat recht. Ich wusste, wenn es jemand könnte, dann Jarvan.
„Dass er uns entrissen wurde, wenn er doch der Welt noch so viel zu geben hatte, ist schlicht unerträglich. Er war kein Mann, für den Krieg leicht war, sondern ein Mann, der den Krieg leichter machte, indem er seine Zeit und Liebe jenen Demacianern widmete, die für ihr Land kämpften. Und dafür … für diese Liebe, für unser Land und unser Volk, wurde er uns gestohlen.
Und so schwöre ich, bei den Schwertern der Geflügelten Beschützerinnen, dass ich jene zur Verantwortung ziehen werde, die ihn von mir genommen haben. Von uns allen. Und wenn es mein ganzes Leben lang dauern sollte, denn meine Liebe für ihn ist nicht mit ihm gestorben. Sie wird mit mir sterben.“
Mein Herz fühlt sich an, als wäre es in eiskaltes Wasser getaucht worden. Der König blickt mich einen weiteren Moment lang an, bevor er fast unmerklich nickt, so wie Barrett, wann immer er mir ein Versprechen gemacht hatte. Ich merke, dass er glaubt, dass auch ich das will.
Applaus erfüllt den Saal, hallt wider und wird immer lauter. Die ganze Halle ist voller blutrünstiger Menschen, bereit, noch mehr Demacianer in den Tod zu schicken, für … für was? Rache? Eine falsche Gerechtigkeit?
Barrett hätte das nicht gewollt.
Ich bemerke, wie Kahina mir auf die Beine hilft und zum Pult deutet. Sie sieht mich mit den durchdringenden Augen ihres Vaters an und lächelt kurz. „Du schaffst das, Mutter“, deutet sie mir. „Ich bin für dich da.“
„Wir beide sind für dich da.“, deutet Sona. Meine lieben Mädchen. Zwei Geschenke, die mein Ehemann und ich einander und der Welt zuteilwerden lassen konnten.
Meine Kehle ist trocken und meine Stimme nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Ich räuspere mich und versuche es erfolglos noch einmal, doch der Saal ist verstummt.
„Ich finde nicht die Worte, um euch zu erzählen, wie wichtig meinem Ehemann das Volk von Demacia war“, sage ich und zwinge meine Stimme, nicht zu brechen. „Stattdessen werde ich tun, was er gemacht hätte, und es euch zeigen.“ Ich blicke die hochgeborenen Menschen um mich herum an und spreche mit demselben Feuer in meinen Worten, das ich hatte, als ich zum ersten Mal in diesem Raum war. „Ich spende zu Ehren meines Ehemanns das Anwesen der Buvelles in der großen Stadt an das Volk von Demacia. Es soll eine Bibliothek werden, gefüllt mit unserer privaten Sammlung, die jeder Demacianer jederzeit nutzen kann.“
Schockiertes Raunen breitet sich im Saal aus. Andere Adeligen dulden nicht, dass gewöhnliche Bürger ihre Büchersammlungen verwenden. Ich glaube sogar, die Vorstellung, dass jeder sich bilden kann, ist einigen höchst zuwider. Barrett und ich hatten aber schon vor Jahren erstmals über die Bibliothek gesprochen, und ihm gefiel die Idee, Demacianern mehr als nur das Nötigste zum Überleben zu bieten.
Es ist das Mindeste, was ich zu seinen Ehren machen kann, besonders, wenn so viele andere ihm so erbärmlich ihre Ehre erwiesen hatten.
„Unsere Tochter Sona hat in Gedenken an ihren Vater ein Lied komponiert, das sie heute spielen möchte. Sona?“
Sona steht auf, ihr Etwahl über ihren Rücken geschlungen, und nimmt meinen Platz am Pult ein, wo das hölzerne Standbein des Etwahls bereits aufgestellt ist. Während ich wieder neben Kahina sitze, die Urne meines Ehemanns in meinen Armen, flüstert sie in mein Ohr: „Er hätte das geliebt. Du machst das Richtige.“
„Ich weiß“, sage ich und drücke ihre Hand, während Sona auf ihrem Instrument die ersten Noten erklingen lässt.
Nach nur sechs Metren sind die Augen aller in den Hallen des Mutes mit Tränen erfüllt.
„Es wäre nur für ein paar Monate“, sagte der Illuminator außer Atem. „Würdet Ihr für das Wohl dieser Kinder sorgen, während sie sich in Eurer Obhut befinden?“
Barrett und ich blickten einander an. „Ich denke, wir können mehr als nur das“, sagte Barrett lächelnd. „Wie viele Kriegswaisen habt Ihr?“
„Wir kümmern uns um neun, doch zwei von ihnen sind krank und überstehen die Woche möglicherweise nicht. Eine von ihnen spricht außerdem nicht, und wir sind uns nicht sicher, ob wir sie heilen können.“
„Könnt Ihr einen eurer Heiler entbehren, bis es ihnen wieder besser geht?“
„Nun … ja, das sollte sich einrichten lassen.“
„Dann bringt sie alle hierher“, sagte Barrett und nickte. „Wir haben den Platz und alles Nötige, um diesen Kindern zu helfen, und Ihr könnt euch darauf konzentrieren, Familien für sie zu finden.“
Der Illuminator dankte uns überschwänglich. Wir hatten noch nie so viele Kinder beherbergt, und noch nie Kinder, die nicht aus Demacia stammten. Doch Demacianer sind nicht die einzigen Menschen auf dieser Welt, also sind sie auch nicht die einzigen Menschen, die Hilfe in der Not brauchen.
Ich weiß noch, wie aufgeregt Kahina war und wie sie mit ihren Lehrern mehr über Ionia in Erfahrung brachte, um herauszufinden, wie wir den Kindern mehr Geborgenheit bieten könnten. Welche Feiertage wir beispielsweise zusammen verbringen könnten. Barrett und ich bemühten uns, die Zimmer vorzubereiten, und kochten dann ein riesiges Mahl für sie alle.
Als die Kinder ankamen, fiel uns ein, dass keins von ihnen Demacianisch sprach. Barrett und Kahina begannen also, eine andere Form der Kommunikation zu erfinden, die sich auf Zeigebewegungen, Gesten und Gesichtsausdrücke stützte. An jenem Abend war das Haus von fröhlichem Lachen erfüllt.
Doch als Musik erklang, verließ ich die anderen und wanderte durch das Haus. Ich konnte nicht sagen, woher sie erklang, und so suchte ich im gesamten Haus, ging von Zimmer zu Zimmer, um ihren Ursprung zu finden.
Und dann sah ich sie. Sona. Mit ernster Miene bearbeitete sie ein Instrument, das dreimal so groß war wie sie, und wiegte sich zu ihrer Musik hin und her. Sie hatte bei meinem Eintreten zu spielen begonnen, hörte aber nicht auf, als ich eintrat.
Es war die schönste Musik, die ich je gehört hatte.
Barrett fand mich dort später an diesem Abend – versonnen gegen den Türrahmen gelehnt. „Lestara? Ist alles …“ Als die Musik ihn erfasste, verstummte er.
Viel zu schnell unterbrach das Mädchen sein Spiel und starrte uns aus riesigen Augen an. Barrett und ich sahen einander an. Dann winkte er dem Mädchen zu. Nur als ganz kurzen Gruß.
Sie lächelte, und ihr Lächeln war so hell wie der Mond. Sie winkte ihm schüchtern zurück, ging zu uns und setzte sich hin.
„Das ist wohl das Mädchen, von dem sie sagten, es könne nicht sprechen“, sagte Barrett sanft.
„Ich glaube, das braucht sie auch nicht zu können.“ Ich weiß noch, dass ich mich fühlte, als würde ich alles über sie wissen, nur durch ihre Musik. Es hatte sich für mich wie ein Gespräch angefühlt, das tiefgründiger war als bloße Worte.
Barrett sah mich wieder an. Nach einem Augenblick lächelte er und nickte mir zu.
Wir brachten diese neuen Waisenkinder ungefähr drei Monate lang bei uns unter. Acht von ihnen verließen uns.
Sona blieb.
Die Beerdigungszeremonie findet in den Gärten neben der Zitadelle der Morgendämmerung statt, zwischen den Lilien, wo ich Barretts Hochzeitsantrag annahm, und wir uns endlich das Eheversprechen als Mann und Frau gaben. Mir kommt es vor, als wäre das sehr lange her. Es fühlt sich an, als wäre es gestern gewesen.
Meine Töchter sitzen neben mir, während uns zahllose Adelige kondolieren. Sie halten mich davon ab, zu tief in meinen Erinnerungen zu versinken, obwohl es mir schwerfällt, in der Gegenwart verhaftet zu bleiben.
Eine junge Frau mit einem abgerichteten Azuradler auf der Schulter nähert sich uns. Ich erkenne sie sofort: Vor ein paar Jahren hatte sie Barrett in einer Schlacht das Leben gerettet und dabei ihren eigenen Bruder verloren. Ich stehe auf und umschließe ihre Hände fest mit den meinen. „Danke, Quinn“, flüstere ich. „Danke, dass Ihr mir noch zwei Jahre mit ihm geschenkt habt.“
Sie errötet peinlich berührt. „Ich … Das war doch nicht der Rede wert.“
„Und ob es das war. Es bedeutete mir alles. Wenn es irgendetwas gibt, das ich für Euch tun kann, dann lasst es mich bitte wissen.“ Ich warte ab, während sie mit sich ringt, ob es aussprechen kann, ob dies ein angemessener Zeitpunkt ist. „Bitte. Ich möchte Euch helfen, egal, worum es geht.“
Ich muss Quinn noch etwas gut zureden, doch dann bringt sie ihr Anliegen endlich vor. Sie will Ritterin werden und bittet mich zögernd, ob ich in ihrem Namen mit dem neu ernannten Hochmarschall sprechen könne. „Natürlich“, erwidere ich und stehe auf. Meine Töchter und Quinn sagen mir, ich müsse nicht sofort losgehen, aber ich bin insgeheim froh, dass ich heute noch etwas anderes habe, worüber ich nachdenken kann. Etwas zu tun habe.
Tianna Kronwacht hat mich und meine Töchter noch nicht angesprochen. Stattdessen steht sie neben ihrem Verlobten und hört ihm zu, wie er den Adeligen der anderen Häuser weitere Magiesuchende schmackhaft machen will. Keiner von ihnen scheint besonders daran interessiert zu sein, doch vermutlich sorgt die Gegenwart einer Kronwacht dafür, dass sie ihm trotzdem zuhören.
Kronwacht und Eldred drehen sich um, als ich mich nähere und kondolieren mir. Sie umarmt mich sogar, als trüge sie keine Mitschuld am Tod meines Mannes. „Tianna“, sage ich, als sie mich losgelassen hat, „dort drüben ist eine junge Frau namens Quinn, die mit Euch sprechen möchte.“
„Meine teure Lestara, gerade am heutigen Tage solltet Ihr nicht anderen dienen“, erwidert sie. „Gestattet anderen einmal, Euch zu dienen.“
„Wenn Ihr das schon anbietet, dann könntet Ihr mir am besten dienen, indem Ihr Euch mit jener jungen Frau unterhaltet. Sie hat Barrett einmal das Leben gerettet.
Kronwacht schürzt beschämt die Lippen. Vor drei Wochen war sie während der Schlacht an den Toren der Trauer Schwert-Hauptmann der Furchtlosen Vorhut gewesen, musste aber von ihrem Posten zurücktreten, damit sie die Möglichkeit behielt, zum nächsten Hochmarschall ernannt zu werden. Es waren ihre Frontkämpfer, die meinen Mann nicht hatten schützen können, so wie sie bei Purcivell Bronz versagt hatten. Wie man ihr einen solch hohen Rang verleihen konnte, entzieht sich meinem Verständnis.
„Das Geschäftliche besprechen wir zu einer anderen Gelegenheit“, sagt sie kühl.
Ich lasse mich nicht so leicht abwimmeln. „Sicher, Tianna. Wann?“ Sie murmelt vor sich hin, dass sie noch in dieser Woche wieder an die Front müsse. „Dann werde ich Euch in den nächsten Tagen einen Besuch abstatten, meine Liebe. Zum Tee?“
Zu ihrem Glück und ihrer sichtbaren Erleichterung zieht sie einer ihrer Krieger in glänzender Rüstung beiseite, um mit ihr über Strategie oder ein anderes bequemes Thema zu sprechen. Während ihrer Abwesenheit schleicht sich Eldred an meine Seite. „Es ist ein solch großzügiges Angebot, der Erhabenen Stadt eine Bibliothek zu spenden“, sagt er mit einem leichten Lächeln.
„Ja, mein Mann war sehr großzügig.“
„Ich interessiere mich für den Inhalt Eurer Sammlung.“
Ich verdrehe die Augen. „Die Magiesuchenden werden kein Buch über Magie in meinem Besitz finden, das kann ich Euch versichern.“
„Ah, aber Beschreibungen von Magie können auch gefährlich sein, Fürstin Lestara.“ Er lächelt nun nicht mehr. Sein versteinerter Gesichtsausdruck soll wohl von dem fanatischen Flackern in seinen Augen ablenken. „Und in manchen Büchern begegnet man der Magie mit … wie sagt man … einem trügerischen Mangel an Urteilsvermögen. Zauberei wird darin als moralisch grau dargestellt und nicht als das offensichtliche Böse, das sie ist. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass der Verstand der Demacianer verdreht wird, bis sie glauben, dass Magie … eine Art neutrale Kraft ist.“
„Schlagt Ihr etwa vor, dass die Magiesuchenden meine Sammlung prüfen, bevor die Bibliothek eröffnet wird?“ Unglaublich, wie dreist dieser Mann ist. Die Magiesuchenden haben nicht die Macht, solche Forderungen zu stellen. Insbesondere nicht dem Adel. „Denn ich bin immer noch Fürstin Lestara Buvelle, Oberhaupt der Familie Buvelle, bis meine Tochter den Titel erbt. Dieser Name hat eine solch große historische Bedeutung, dass ich nicht glaube, der König würde–“
„Es einfordern? Oh, aber habt Ihr das denn nicht gehört?“ Er lächelt wieder, und ich würde es ihm nur zu gern aus dem Gesicht schlagen. „Noxianische Magier haben die Tore der Trauer einstürzen lassen. Was glaubt Ihr, wen der König bestrafen will?“
„Die Noxianer.“ Ich sage das mit fester Stimme, doch nun beschleichen mich Zweifel.
Eldred bestätigt sie mit einem Kopfschütteln. „Die Magier.“
Ich hatte mir schon einige Zeit Fragen zu Sonas Instrument gestellt, aber im Laufe der Jahre war mir klar geworden, dass nicht nur schöne Musik dahintersteckte.
Und ich wusste nicht, wie ich Barrett das sagen sollte.
Wir hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt, und ich wusste, dass er Magier im Gegensatz zu anderen Adeligen weder fürchtete noch hasste. Aber mir war nicht klar, wie er reagieren würde, wenn ich ihm erzählte, dass unsere Tochter Magie nutzte.
Es dauerte Monate, bis ich glaubte, die richtigen Worte gefunden zu haben. Es war kurz vor dem Zubettgehen, in einer Woche im Spätfrühling, an einem warmen Nacht, der nach Pfingstrosen duftete.
„Barrett.“
„Hm?ׅ“ Er blätterte im Poesiebuch der Illuminatoren, was er oft tat, wenn er wusste, dass er bald mit den Soldaten an der Front sprechen musste.
„Ich muss dir etwas sagen: Ich liebe dich von ganzem Herzen, aber ich würde dich sofort verlassen, wenn du unseren Töchtern auf irgendeine Weise wehtun würdest.“
Barrett lies das Buch auf den Boden fallen. „Was?“, fragte er verblüfft. „Was habe ich denn angestellt, dass du glaubst, ich könnte je–“
„Ich möchte nur, dass du es weißt“, sagte ich. „Du würdest weder mich noch unsere Töchter je wiedersehen, für den Rest deines Lebens.“
Er runzelte die Stirn. „Ist was passiert?“
Ich lehnte mich zu ihm, hob das Buch auf und glättete die Seiten, die der Fall zerknittert hatte. Ich musste etwas mit meinen Händen tun und etwas ansehen, das nicht das Gesicht meines Mannes war.
„Ich glaube, dass Sona Magie einsetzt.“
„Oh.“
Als ich zu ihm aufsah, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.
Was hatte ich nur getan? Hatte ich das Leben meiner Tochter gefährdet? Hatte ich meine Ehe zerstört?
Mit einer wilden Furcht in den Augen drehte er sich zu mir. So verängstigt hatte ich ihn noch nie erlebt, und ich wusste noch nicht, was das zu bedeuten hatte.
„Wie …“, fragte er mit brüchiger Stimme. „Wie können wir sie schützen?“
Ich hatte meinen Mann nie mehr geliebt als in jenem Augenblick.
Der ganze Tag hat mich tief erschöpft, und meine Töchter helfen mir auf die Beine, als die letzten adeligen Gäste aus den Gärten schlendern.
„Sollen wir dich nach Hause bringen?“, fragt Sona. Ich merke, dass sie sich um mich sorgt, sie ist mir den ganzen Tag nicht von der Seite gewichen, aber ich weiß, dass die Trauer auch ihr zu schaffen macht.
Ich schüttele den Kopf. „Nein, ich … Ich will, dass wir Abschied nehmen. Nur wir drei. Bevor wir gehen.“ Bevor der Thronsaal morgen für die Öffentlichkeit freigegeben wird und der Andrang der Trauernden jedes Bisschen Privatsphäre unmöglich macht.
Kahina nickt und geht den König suchen. Jarvan sagt natürlich, dass wir so viel Zeit bekommen, wie wir benötigen. „Ich warte vor der Tür, solltet Ihr mich brauchen“, sagt er. Sein Angebot rührt mich, denn der König hat nur einmal angeboten, für einen Mann die Totenwache zu halten, und dieser Mann ist jetzt eingeäschert. Seine Liebe für Barrett scheint sich auch auf dessen Familie zu erstrecken.
Ich knie neben dem eingemeißelten Symbol nieder, das seinen Ruheort versiegelt. Außen befinden sich ein detailliertes Relief seines Profils, sein Name und das Familienwappen der Buvelles. Die offiziellen Bilder. Diejenigen, anhand derer ihn ganz Demacia auf ewig in Erinnerung behalten wird. Aber ich weiß, dass darin ein Bild von Kahina liegt, das sie als Kind gekritzelt hatte – seiner Asche zugewandt. Darauf sieht man Barrett, wie er zwei Männern auf ihren Pferden je ein Trinkgefäß und ein Paar neuer Stiefel überreicht. Eine Kinderzeichnung eines Mannes, den sie sehr lieb gehabt hat.
Kahina kniet jetzt neben mir und gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Ich habe darüber nachgedacht, wie ich ihn ehren will.“
„Du ehrst ihn, indem du als die wunderbare Frau lebst, zu der du geworden bist“, sage ich und will meine Lippen auf ihre Stirn drücken.
Doch sie zieht sich von mir zurück und lässt die Hände in den Schoß fallen. „Ich meine das ernst, Mutter.ׅ“
Ich runzele die Stirn und bitte sie mit einer Geste fortzufahren. Ich weiß nicht, was ich von ihr erwarte, aber es ist klar, dass ich mich nicht darüber freuen werde, was ich jetzt von ihr hören werde.
Kahina wirft einen langen Blick auf die Gruft ihres Vaters und sagt: „Vaters Dienst muss fortgeführt werden.“
„Er war Kaplan.“
„Und das werde ich auch. Oder so was in der Art.“
„Ich verstehe nicht, Kahina.“
Sie atmet tief ein, was nicht gerade zu meiner Beruhigung des flauen Gefühls in meinem Magen beiträgt. Doch dann lächelt sie strahlend. „Ich habe beschlossen, den Illuminatoren als Ritter beizutreten.“
Ich schnappe nach Luft. Ich kann nicht anders.
Ritterliche Illuminatoren verrichten ihre guten Taten im Kampf und kommen Demacia zu Hilfe, wenn man sie braucht. In Friedenszeiten widmen sie sich jedoch ausschließlich dem Wohl des Königreiches.
Und zwar so aufopfernd, dass sie weder heiraten noch Titel tragen. Für die meisten ist das kein Problem, doch Kahina soll ja einmal Oberhaupt der Familie Buvelle werden und ihren Namen erben …
„Das ist … wunderbar, Liebes. Eine wunderbare Neuigkeit.“ Ich umarme sie fest und versuche, die Sorgen zu verbergen, die sich auf meinem Gesicht breitgemacht haben. „Dein Vater wäre sehr stolz auf dich. So wie ich.“
Und es stimmt. Das wäre er.
Sona berührt das Siegel aus Petrizit auf Barretts Gruft. Ich bemerke, dass diese Nachricht auch sie mitnimmt. Wenn Kahina den Illuminatoren beiträte, wäre Sona die einzige verbleibende Erbin.
Und da sie adoptiert ist und kein demacianisches, sondern ionisches Blut in ihren Adern fließt, könnte ihr das Probleme bereiten.
Insbesondere dann, wenn die Magiesuchenden die Art Macht erringen, die Eldred vorauszuahnen scheint.
Was würde passieren, wenn es für sie auf einmal zu gefährlich wäre, sich in Demacia aufzuhalten? Barrett und ich hatten diese Möglichkeit zu seinen Lebzeiten erörtert, aber keiner von uns glaubte wirklich daran, dass so etwas geschehen könnte. Die Magiesuchenden waren nie besonders beliebt, man hat sie auch nicht sehr bewundert, aber durch die Vermählung von Eldred mit Tianna Kronwacht könnte sich das schnell ändern.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort sitze und über die Zukunft meiner Töchter nachdenke, doch allzu bald wollen sie nach Hause. Ich sage ihnen, dass ich noch bleiben möchte, und sie ohne mich gehen sollen.
Ich bin immer noch nicht bereit, mich zu verabschieden.
Jarvan III. betritt die Halle, und ich weiß nicht, ob ich mich darüber ärgern oder erleichtert sein soll. „Lestara? Seid Ihr noch da?“
„Das bin ich.“
Wortlos kniet er neben mir nieder. Er ist groß gewachsen, doch die Last der Trauer wiegt schwer auf seinen gebeugten Schultern. Ich habe Jarvan noch nie angesehen und ihn als alt angesehen, doch jetzt erkenne ich sein Alter genau.
„Ich weiß noch“, unterbricht er die Stille, „wie ich Barrett kennengelernt habe. Da war ich noch ein Junge.“
Die Geschichte habe ich im Laufe der Jahre unzählige Male gehört, aber immer nur aus Barretts Perspektive. Ich frage mich, wie sich die Version des Königs davon unterscheiden wird.
„Ich war wütend auf einen anderen Jungen, der in den Ställen arbeitete. Ich glaube, ich hatte bei einem Spiel verloren, es war jedenfalls nicht so wichtig, und ich bekam einen Wutanfall, wie er bei Kindern oft vorkommt. Ich brüllte so inbrünstig, dass mein Gesicht wohl violett anlief.“ Bei dem Gedanken muss er – wenn auch freudlos – lachen. „Barrett kam auf mich zu und fing an mich zu löchern, warum ich denn glaubte, dass der arme Stallbursche meinen Zorn verdient hätte. Alles mit diesem verdammten Lächeln.“
„Bei dem er immer so geduldig mit einem war.“
„Genau. Das ist das Schlimmste, was ein Sechsjähriger sich ansehen muss, wenn er so sehr weint, dass er kaum atmen kann. Also begann ich, ihn anzubrüllen. ‚Weißt du überhaupt, wer ich bin?‘ Und er antwortet ganz geduldig, dass er das natürlich wisse, und er besseres von mir erwartet hätte.“ Er schüttelt seinen Kopf, und ich glaube, Tränen auf seinen Wangen zu erkennen. „Damals hat er mich beeindruckt. Es war ihm egal, ob ich ein Prinz war, er dachte nur, dass ich mich besser hätte benehmen können. Das hat mich beruhigt, und als ich nicht mehr weinen musste, fragte ich ihn nach seinen Namen.“ Dieses Lächeln ist echt, voller Liebe für diesen Jungen in seinen Erinnerungen. „Wie ich schon sagte, er hat mich zu einem besseren Menschen gemacht.“
Jetzt spüre ich, wie sich meine eigenen Tränen heiß hinter meinen Augen sammeln. „Hat er das?“
„Was wollt–“
„Barrett würde nicht wollen, dass sein Tod gerächt wird.“
Jarvan weiß, dass ich recht habe. Ich merke das daran, dass jedes bisschen Farbe aus seinem Gesicht weicht. „Nicht alles, was wir tun, hätten die Toten von oder für uns gewillt“, sagt er, Stahl und Trauer in der Stimme. „Doch die Lebenden müssen irgendwie weiterleben. Müssen herausfinden, wie es weitergehen soll.“
Natürlich könnte ich ihm etwas dazu sagen, doch nichts davon würde seine Meinung ändern. Jarvan III. ist – genau wie mein Mann es war – jemand, der zu seinem Wort steht. Was er sich vorgenommen hat, setzt er auch um. Nichts kann ihn davon abhalten.
In der Stille sitzen wir noch ein wenig länger zusammen. Ich stehe auf und wünsche mir, ich hätte mehr Zeit alleine mit meinem Geliebten gehabt, doch der König macht keine Anstalten, sich zu bewegen, und ich möchte nicht mehr neben ihm sitzen.
Als ich auf die Tür zugehe, sagt Jarvan noch etwas. „Ihr habt ihn zu einem besseren Menschen gemacht, Lestara. Ich hoffe, Ihr wisst das.“
„Das weiß ich. Er hat es mir oft gesagt.“
Plötzlich steht der König von Demacia auf und umarmt mich sehr fest. Er beginnt zu zittern, als er sein Schluchzen zurückzuhalten versucht.
In diesem Augenblick wird es mir bewusst.
Barrett ist tot. Er ist wirklich tot.
Die Tränen laufen mir über das Gesicht, und bald ringe ich nach Luft, weil ich nicht atmen kann. Es fühlt sich so an, als wäre mir der Atem aus der Brust gewrungen worden, als wären nur noch brennende Tränen übrig geblieben.
Wir umarmen uns und weinen. Diese furchtbare Trauer erstickt uns beinah und beraubt uns jeglicher Worte. Ich kann nicht loslassen, sonst falle ich zu Boden.
Ich weiß nicht, wie lange wir so verharren. Sekunden, Minuten, Stunden. Doch irgendwann kehrt das Atmen zurück, und ich stehe da und sauge die Luft ein. Jarvan beruhigt sich auch wieder.
„Ich kann mich nicht mehr an alles über ihn erinnern“, flüstert er. „Es ist, als ob mein Verstand sich darauf verlassen hat, dass er immer da sein würde, und keinen Grund dazu hatte … sich an sein Lachen zu erinnern oder sich zu merken, wie er Tiefgründiges von sich gab. Aber ich … Ich brauche diese Worte von ihm, Lestara. Irgendetwas, damit seine Stimme wieder in meinem Verstand widerhallen kann. Bitte.“
Ich denke kurz nach, doch die Dinge, an die ich mich am besten bei ihm erinnere, gehen Jarvan III. nun wirklich nichts an. Das sind meine Erinnerungen, die zwischen Barrett und mir stattfanden und meine Schätze sind.
Also schüttele ich den Kopf. „Ich kann mich nicht ganz genau an seine Worte erinnern.“ Und dann merke ich, wie das erste Mal seit Wochen lächele. Es fühlt sich seltsam an, aber irgendwie weiß ich noch, wie das geht. „Doch ich erinnere mich daran, was er tat, und wie ich mich dabei fühlte. Und niemand kann hoffen, mehr zurückzulassen. Es ist das einzige Vermächtnis, das zählt.“
Weit entfernt von der Zitadelle der Morgendämmerung zog Sona leise ihre Truhe unter dem Bett hervor, um ihre Schwester am anderen Ende des Raums nicht zu wecken, und fing an, ihren Schrank auszuräumen. Es waren fast alles Kleidungsstücke, die sie bei ihren Auftritten tragen würde, und sehr wenig davon hatte einen praktischen Wert. Ganz sicher war es nichts, was eine Jugendliche gewöhnlich trug, wenn sie davonlief. Doch wenn sie fern von zu Hause ihren Lebensunterhalt verdienen wollte, würde sie das mit ihrer Musik und ihren Auftrittskünsten tun müssen.
In den drei Wochen seit dem Tod ihres Vaters hatte sich die Stimmung in Demacia verändert.
Sie wusste, dass der Krieg, den der König führen wollte, sich nicht gegen die Noxianer richten würde. Er würde sich gegen Menschen wie sie richten, und Sona wusste sehr gut, dass ihre Mutter sie nicht wie ihr Vater als bester Freund des Königs würde davor bewahren können.
Deshalb ging sie weg. Weit weg, bevor noch etwas schiefgehen konnte. Weit weg, bevor sie jemand aufhalten konnte.
Das hatte sie jedenfalls gehofft. Sona hört, wie die Haustür geöffnet wurde. Das war bestimmt ihre Mutter, die endlich heimkam. Sie kann mich nicht aufhalten, dachte sie und fuhr mit der Hand an ihrem Etwahl entlang. Ich kann dafür sorgen, dass sie es nicht tut.
Lestara warf einen Blick durch Sonas geöffnete Tür und nickte. Sie legte ihre Hände flink und geübt in die Zeichen und bedeutete ihrer Tochter unmissverständlich: „Ich komme mit.“
Sona lief ihrer Mutter hinterher, als diese zu ihrem eigenen Schlafzimmer ging. „Mutter, du weißt ja nicht einmal, wo ich hin will!“ Ihre Gebärden begannen, hektisch durch die Luft zu tanzen, als Lestara endlich ihre Hände sehen konnte.
„Das spielt keine Rolle. Ich komme mit dir. Ich packe jetzt meine Sachen, und wir verschwinden im Laufe der Woche.“
„Mutter–“
Lestara lächelte ihre Tochter traurig an. „Sona. Wann hast du mir jemals etwas ausreden können, das ich mir fest vorgenommen hatte?“
Und damit verließ sie das Zimmer.
Sona merkte erst, dass sie weinte, als sie aus dem Fenster blickte und ihr die kalte Nachtluft über das Gesicht strich.
Das ist unfair, dachte sie. Ich will nicht weg. Das ist mein Zuhause.
War es das wirklich? War es das immer noch? Konnte es nach dem Tod ihres Vaters wieder ihr Zuhause werden?
Wie so oft, wenn sie nichts mit sich anzufangen wusste, setzte Sona sich an ihr Etwahl und begann zu spielen.
Die traurige Melodie schwebte aus ihrem Fenster und hallte in den Straßen der Erhabenen Stadt, in ihrer Zitadelle und sogar jenseits ihrer Mauern wider. Wer sie hörte, wusste nicht, warum er auf einmal weinen musste.
Sona schon.
Sie beweinten alle den Tod eines unvergleichlichen Mannes.
Und sie beweinten das Land, das er mit seiner Gegenwart zu einem besseren gemacht hatte, und das sich durch seine Abwesenheit für immer verändern würde.
Sona wusste es. Und so weinte und spielte sie weiter.