Short Story
Tief einatmen

Tief einatmen

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Tief einatmen

Sie halten die Leute in Zhaun für Versager.

Natürlich würden sie das nie zugeben – sie lächeln verlogen, klopfen uns auf den Rücken und erzählen uns, dass Piltover ohne Zhaun niemals so weit gekommen wäre. Ohne unsere harten Arbeiter! Oder unseren blühenden Handel! Unsere Chemtech, die in Piltover angeblich niemand kauft! Aber natürlich tun sie das. Zhaun sei ein wichtiger Bestandteil der Kultur von Piltover, sagen sie.

Alles Lügen. Es ist offensichtlich.

Zhaun ist für sie ein Auffangbecken für Idioten. Für die, die zu dumm sind, um es zwischen den goldenen Türmen von Piltover zu etwas zu bringen.

Für Leute wie mich.

Ich habe Monate lang mit Schimmer gehandelt, damit ich es mir leisten konnte, mich für eine Stelle als Lehrling in Klan Holloran zu bewerben. Ich habe jedes verkrustete, zerfledderte Buch über Zahnrad-Maschinerie gelesen, das ich auftreiben konnte. Ich habe sogar einen Zahnradgelenk-Prototypen konstruiert, der Leuten mit gebrochenen oder kranken Gelenken helfen kann. Ich habe alles getan, was ich konnte, um mir die Stelle als Lehrling in Piltover zu verdienen. Ich habe es sogar bis zum letzten Schritt des Auswahlverfahrens geschafft: ein persönliches Gespräch mit Boswell Holloran.

Nur eine Formalität, haben sie gesagt. Ihre Art, mich in der Familie willkommen zu heißen.

Er hat den Raum betreten, meine vom Grau durchsetzte Kleidung gesehen und dann nur freudlos gelacht. „Tut mir leid, Junge. Wir nehmen keine Grubenratten bei uns auf.“

Er hat sich nicht einmal hingesetzt.

Also bin ich wieder hier. In Zhaun. Ein Idiot mehr.

Das Grau kriecht durch die Straßen und heißt mich willkommen. An den meisten Tagen ist es dünn genug, dass man tief einatmen kann, ohne Flüssigkeit auszuhusten. Heute aber ist so ein Tag, an dem wir von „Totalem Grau“ sprechen. Du glaubst, an jedem deiner Atemzüge ersticken zu müssen. Deine Brust fühlt sich eng und beklemmt an. Und du kannst nicht weiter sehen als bis zu deinen Fingerspitzen. Ich will weglaufen, aber ich weiß, dass ich nirgendwo anders hin kann. Es fühlt sich an, als würde das Grau mich umschließen, mich erdrücken, mich zerquetschen.

In solchen Momenten bete ich zu Janna.

Nicht jeder in Zhaun glaubt daran, dass sie wirklich existiert, aber meine Mutter hat das immer getan. Sie hat mir erzählt, dass ein blauer Vogel am Tag meiner Geburt vor dem Fenster flatterte. Sie wusste einfach, dass es Janna war, die ihr sagte, dass alles gut wird.

Natürlich lag sie damit daneben. Nichts wurde gut. Ein paar Jahre später ist meine Mutter umgekommen, als sie die Grube nach brauchbarem Schrott durchforstete, und ich musste mich selbst am Leben halten mit den paar Zahnrädern, die sie mir hinterlassen hatte. Dann das Übliche: Konnte keine Freunde finden. Wurde oft verprügelt. Der Junge, in den ich mich verliebt hatte, wollte nichts von mir wissen. Hab also versucht, zu lernen, und mir den Weg nach Piltover mit Büchern freizuschaufeln. Hat nicht geklappt. Dachte mir, dass Janna mich vergessen haben musste.

Aber ich habe den Anhänger, den meine Mutter mir gegeben hat, immer bei mir: mit einer hölzernen Gravur des blauen Vogels, den sie glaubte, gesehen zu haben. Für solche Fälle wie jetzt.

Ich sitze auf dem feuchten Boden, weil ich mich einfach nicht dazu aufraffen kann, eine Bank zu suchen. Dann hole ich den Anhänger heraus, den ich immer unter meinem Hemd trage, und ich rede mit Janna.

Nicht laut, natürlich – die Leute sollen mich nicht für einen chemverseuchten Freak halten – aber ich rede mit ihr.

Ich bitte sie um nichts. Ich erzähle ihr einfach von meinem Tag, den Tagen davor, und dass ich Angst davor habe, es nie zu etwas zu bringen und hier unten in der Grube ohne etwas in der Hand zu verrotten, so wie meine Mutter, und dass ich manchmal weglaufen will an einen Ort, an dem ich einfach atmen kann, wo ich keine Angst haben muss und nicht ständig heulen muss. Ich hasse mich dafür, zu heulen, weil ich weiß, dass es Leute gibt, die es noch viel schwerer haben als ich, und ich erzähle ihr, dass ich manchmal daran denke, mich einfach in die chemischen Lachen der Grube zu werfen und langsam darin zu versinken wie meine Mutter. Meine Lungen würden sich mit Flüssigkeit füllen und dann wäre es wenigstens endgültig vorbei. Ich erzähle Janna, dass ich hoffe, dass es ihr gut geht. Wo auch immer sie sein mag, ich hoffe, dass sie glücklich ist.

Und dann spüre ich, wie mir eine Brise über die Wange streicht. Nur ein leichter Wind, aber er ist da. Bald schon bläst er mir meine Haare ins Gesicht. Dann pfeift er laut und saust umher, zerrt an meinem Mantel und es ist, als stünde ich im Auge des Sturms.

Das Grau vor mir wird aufgewirbelt, eine Brise, die von überall gleichzeitig zu kommen scheint, bläst es nach oben. Der Schleier lüftet sich, und ich kann erkennen, wie Leute auf der höheren Ebene dabei zusehen.

Der Wind hält inne.

Das Grau ist verweht.

Ich kann atmen.

Nicht nur kurz und vorsichtig nach Luft schnappen, sondern tief einatmen und meine Lungen mit kalter, frischer Luft füllen. Die Sonne scheint an den Türmen von Piltover vorbei auf Zhaun, das nun nicht länger vom Grau verschleiert ist.

Ich kann die Piltoveraner über uns sehen, wie sie auf uns hinabsehen. Ohne das Grau, das unser Elend vor ihnen verbirgt, können sie uns von ihren Balkonen und Brücken aus sehen. Ich glaube nicht, dass ihnen das besonders gefällt. Niemand möchte daran erinnert werden, dass er über dem Elend wohnt. Ich spüre einige abwertende Blicke.

Und plötzlich sehe ich ihn: Boswell Holloran. Er hält einen Kuchen in der Hand und sieht auf mich herab. Schon wieder. Abscheu zeichnet sich klar auf seinem Gesicht ab. Genau wie das letzte Mal.

Ich bin so damit beschäftigt, sein angewidertes Gesicht anzustarren, dass ich nicht mitbekomme, wie jemand mir die Hand auf die Schulter legt.

„Alles wird gut“, sagt sie und ich weiß, ohne mich umzudrehen, wem diese Stimme gehört.

Sie drückt meine Schulter, kniet dann nieder und umarmt mich schützend von hinten.

„Alles wird wieder gut“, sagt sie.

Strähnen ihres Haares fallen auf meine Schultern. Sie riecht wie die Luft nach einem langen Regentag.

„Jetzt mag noch nicht alles gut sein. Und das kann auch noch eine Weile lang so gehen. Aber das ist in Ordnung. Denn eines Tages wirst du glücklich sein, ohne genau zu wissen, wann oder wie es dazu gekommen ist.“ Mein Gesicht ist warm und feucht. Ich weiß nicht, wann ich angefangen habe, zu weinen, aber es erleichtert mich, die Wolken lichten sich. Ich halte mich an ihren Armen fest und sie hält mich fest, und sie sagt mir wieder und wieder, dass alles gut werden wird, dass sie für mich da ist.

Ich weiß nicht, wie lange sie mich schon in ihren Armen hält, aber bald bemerke ich die Blicke aus den Straßen von Zhaun und den Brücken von Piltover über uns.

Noch bevor ich etwas sagen kann, flüstert sie: „Kümmere dich nicht um sie. Achte einfach nur auf dich selbst. Kannst du das für mich tun?“

Ich versuche zu sprechen, aber stattdessen nicke ich nur.

„Danke.“ Sie küsst meine feuchte Wange und drückt mich ein letztes Mal.

Dann richtet sie sich auf und schwebt an mir vorbei. Zum ersten Mal sehe ich sie nun ganz: eine große, ätherische Gestalt, die ich niemals für real halten würde, wenn sie mich nicht gerade berührt hätte. Mir fallen ihre langen, spitzen Ohren auf. Füße, die den Boden nicht berühren. Ihr Haar weht im Wind, auch jetzt, wo gar keiner weht. Augen so blau, dass mir ein bisschen kalt wird, wenn ich sie nur ansehe.

Doch dann lächelt sie und zwinkert mir zu. „Was jetzt kommt, wird dir gefallen.“

Ein unglaublich starker Windstoß entsteht, so schnell und beißend, dass ich mir die Augen zuhalten muss. Als ich sie wieder öffne, ist sie verschwunden. Aber der Wind weht noch immer. Er weht hinauf nach Piltover und zu seinen gaffenden Bewohnern.

Er pfeift, wird schneller und kräftiger. Die Pilties versuchen, in Deckung zu gehen, aber es ist zu spät: Die Böe erwischt sie mit voller Wucht, weht ihre Röcke in die Luft und bringt ihre Frisuren durcheinander. Boswell Holloran schreit vor Schreck, als der Wind ihn vom Balkon weht.

Es scheint, als würde er in den sicheren Tod fallen, doch eine weitere Böe kommt auf und verlangsamt seinen Fall, so als würde sie ihn sanft zu Boden gleiten lassen. Das sieht man ihm aber nicht an. Obwohl er so schnell zu Boden schwebt, wie ein fallendes Blatt im Herbstwind, schreit er wie am Spieß. Mit sehr hoher Stimme. Ohne jegliche Würde.

Seine Kleidung weht nach oben und schlägt ihm auf seinem Weg nach unten ins Gesicht, und schließlich schwebt er nur ein paar Handbreit über einer Pfütze.

„Ich …“ Der Wind hört auf zu wehen und er landet mit dem Hintern zuerst im kühlen Nass. Seine offensichtlich kostspielige Kleidung ist ruiniert. Er plärrt in einer Mischung aus Überraschung, Schmerz und Wut, und wedelt dabei mit den Armen wie ein zorniges Kind. Als er versucht, sich aufzurichten, landet er geradewegs wieder im schlammigen Wasser. Wenn ich ehrlich sein soll, macht er sich ziemlich zum Idioten.

Und ich kann nicht aufhören, zu lachen.